Die Dunkle Erinnerung
Das wusste Bill so gut wie sie selbst. Es war eine der Lektionen, die allen Kampfsportschülern eingetrichtert wurden. Doch Erin musste zugeben, dass Cassidys vorsintflutliche Kampftaktik sie tatsächlich verärgert hatte.
»Ich mache mir Sorgen um dich«, fuhr Bill fort. »Es passt nicht zu dir, in Georgetown zu hocken und eine Horde ausländischer Schüler zu hüten.«
Diesmal lag Bill gar nicht so verkehrt. Die Mission eines verdeckt arbeitenden CIA-Offiziers durfte nur seinen direkten Vorgesetzten bekannt sein, doch jemand, der so lange in der ›Firma‹ war wie Bill, wusste Bescheid. Erin war für verdeckte Aktionen der CIA ausgebildet worden und unterstand der Abteilung für Kampfeinsätze. Nach mehreren Jahren Dienst im Ausland hatten private Verpflichtungen sie nun wieder in die Heimat gerufen.
»Und was soll ich tun, Bill? Willst du, dass ich deine Neulinge mit Samthandschuhen anfasse?«
»Entweder du arbeitest wieder im Ausland, oder …«
»Du weißt, das geht nicht mehr.«
»Dann musst du lernen, dich zu beherrschen. Sprich mit einem Berater oder geh zu einem …«
»Psychologen?«
Bill fuhr sich mit der Hand über die Wange. Offenbar fühlte er sich nicht wohl in seiner Haut. »Ich meine doch nur …«
»Ich weiß genau, was du meinst.« Erin trat einen Schritt auf ihn zu. Nun war es klar: Er war derjenige, der sie so wütend machte. »Und es hat nichts mit dir zu tun. Mein Leben und meine Karriere gehen dich überhaupt nichts an. Ich komme nur her, um deinen Novizen zu zeigen, wie hässlich es im Einsatz werden kann. Wenn du jemanden willst, der sie verhätschelt, bist du bei mir an der falschen Adresse.«
»Das habe ich nicht gemeint.«
»Dann such dir eine andere Dumme für deine Lehrstunden. Denn ich bin im Einsatz gewesen, und ich kann dir sagen, das ist kein Spiel. Je eher die Rekruten das lernen«, sie wies in Richtung Turnhalle, wo die Gruppe immer noch trainierte, »desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie überleben.«
Sie machte auf dem Absatz kehrt, packte die Türklinke und stieß die Tür zu den Umkleideräumen auf. Noch ein paar Schritte, und sie hatte ihre Ruhe. Gegen einen der Spinde gelehnt, atmete sie heftig. Sie spürte, wie ihre Nerven vibrierten, ballte die Fäuste und konnte sich gerade noch zurückhalten, um nicht auf das kalte Metall einzuhämmern.
Verdammt!
Außer ihrem Supervisor war Bill der einzige Kollege, der von der Geschichte mit Janie und Claire wusste. Nachdem Erin nach Langley zurückgekehrt war, hatte sie eines Abends ein paar Drinks zu viel gehabt und war mit Bill im Bett gelandet. Allein das war schwer zu verkraften, aber dass sie ihm auch noch so viel erzählt hatte …
Erin schüttelte den Kopf, als sie daran dachte. Sie schämte sich vor sich selbst. Ihre Familie ging keinen etwas an. Deshalb hatte sie nie etwas erzählt; sie befürchtete, dass die Geschichte die Runde machte. Und was Bill anging – er war seit fünfzehn Jahren bei der Firma und ein verschwiegener Mann. Er hatte Erins Enthüllungen für sich behalten und nie jemandem etwas erzählt.
Bis jetzt.
Meine Güte, Bill wollte, dass sie zu einem Psychiater ging. Doch Psychologen waren das Terrain ihrer Schwester Claire, ein Gelände, auf das Erin nie ihren Fuß setzen würde.
Im Alter von zwölf Jahren hatte sie miterlebt, wie hilflos die Erwachsenen nach Claires Verschwinden reagiert hatten. Damals hatte sie sich geschworen, nie zum Opfer zu werden. Niemand sollte je so viel Macht über sie haben. Und sie hatte diesen Schwur gehalten. Erin war clever geworden. Sie war Klassenbeste in sämtlichen Fächern gewesen. Sie hatte ihren Körper gestählt und geradezu fanatisch die asiatischen Kampfsportarten trainiert. Und als alles um sie herum in die Brüche ging, hatte sie einen kühlen Kopf bewahrt.
Mit einem tiefen Seufzer erinnerte sie sich daran, dass sie genau diese Worte zu Bill gesagt hatte. Sie hatte geprahlt, als hätte sie etwas Großartiges erreicht. In Wahrheit hatte sie nur überlebt.
Doch in einem hatte Bill Recht: Sie war unglücklich in Georgetown.
Erin war in die CIA eingetreten, weil ihr die Arbeit zusagte. Verdeckte Operationen entsprachen ihrem Naturell und ihrer Ausbildung. Außerdem hätte ausgerechnet von Claire Bakers großer Schwester niemand diese Berufswahl erwartet.
Dann aber, vor einem Jahr, war eine schicksalhafte Wendung eingetreten.
Unerwartet war Erins Mutter erkrankt. Krebs. Während einer routinemäßigen Zahnreinigung hatte Elizabeth
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