Die Dunkle Erinnerung
Bakers Zahnarzt eine verdächtige Stelle in ihrem Mund entdeckt und eine gründliche Untersuchung vorgeschlagen. Sechs Monate später, nach Bestrahlungen und einer Chemotherapie, war sie gestorben.
Erin gab die Schuld den Ärzten. Sie hatten eine Frau, die sich vorher gesund gefühlt hatte, einer Totaltherapie ausgesetzt. Außerdem gab sie ihrer Mutter die Schuld, die täglich drei Packungen Zigaretten geraucht und eine Menge Wodka konsumiert hatte, um nachts schlafen zu können. Und schließlich gab sie sich selbst die Schuld. Während ihre Mutter im Sterben lag, war Erin im Ausland gewesen und hatte Agenten geführt. Außerdem – und das war viel schlimmer – hatte Elizabeth erst wegen ihrer Tochter mit dem Rauchen und Trinken angefangen.
Erin seufzte. Die Fehler und Versäumnisse der Vergangenheit waren eine Last, die sie niemals würde abschütteln können, ebenso wenig wie die Verantwortung der Gegenwart.
Sie strebte auf die Duschen zu, streifte im Gehen den firmeneigenen Trainingsanzug ab.
Zur Beerdigung war sie in die Staaten zurückgekehrt und geblieben. Nun, da ihre Mutter nicht mehr lebte, musste sie sich um Janie kümmern. Und Claire. Immer noch um Claire.
Deshalb hing sie fest.
Und die CIA wusste nicht, was sie mit Erin anfangen sollte. Sie war weder Analystin noch Technikerin; deshalb hatte man sie nach Georgetown versetzt, während über ihre weitere Laufbahn beraten wurde. Da Erin vor Eintritt in die CIA ihren Doktor in Politikwissenschaften gemacht hatte, hielt sie nun Vorlesungen über Ethik und internationale Beziehungen, während sie gleichzeitig auf antiamerikanische Äußerungen unter den ausländischen Studierenden achtete. Und sie hielt Kontakt mit den Botschaften, was bedeutete, dass sie jede Woche zwei oder drei Partys besuchen musste.
Erin hatte nichts gegen die Lehrtätigkeit, sie gefiel ihr sogar, und die jungen Leute waren aufgeweckt und wissbegierig. Doch sie war nicht ihr ganzes Erwachsenenleben lang für Vorlesungen ausgebildet worden. Und was ihren inoffiziellen Auftrag anging, ausländische Studenten und Botschaften im Auge zu behalten, schien er oberflächlich betrachtet zwar ihrer früheren Tätigkeit im Ausland zu entsprechen, doch im Heimatland war es ungleich schwieriger. Hier musste Erin strikte Befehle befolgen, die ihr jegliches Eingreifen untersagten und ihr lediglich die Weiterleitung vertraulicher Informationen gestatteten.
Unterdessen schienen ihre Vorgesetzten sie vergessen zu haben.
Ja, es stimmte, sie war stocksauer. Aber es war nun einmal so, wie sie Cassidy gesagt hatte: Manchmal ist das Leben beschissen.
Einige Minuten später kam Erin im Arbeitsanzug der Armee, der Standardkleidung für Rekruten und Ausbilder, aus den Umkleideräumen; an ihrer Brusttasche war die Tages-ID-Karte angeklemmt.
Bill hatte auf sie gewartet. »Immer noch sauer?«, fragte er.
Sie strebte Richtung Ausgang. »Sollte ich?«
»Hör mal, Erin, tut mir Leid, wenn ich dich gekränkt habe.«
»Wem willst du hier eigentlich was vormachen? Du wolltest mich doch wütend sehen.«
Bill warf ihr einen Blick zu und versuchte, ihre Laune einzuschätzen, dann grinste er. »Na ja … okay, es tut mir nicht Leid, falls ich dich gekränkt habe. Aber wozu sind Freunde da, wenn sie sich nicht in das Leben ihrer Lieben einmischen?«
Sie traten hinaus in die Herbstsonne. Die Luft war kühl und klar. Erin drehte sich zu Bill um. »Sind wir denn Freunde?«
»Sind wir es nicht?«
Sie schwiegen, während die Erinnerung an jene eine Nacht mit peinlicher Deutlichkeit zurückkehrte. Erin beeilte sich, ein unverfängliches Thema anzuschneiden. »Also, wie sieht's aus? Soll ich nächsten Monat wiederkommen und deinem neuen Kurs zeigen, wo es langgeht?«
Bill nickte. »Ja, klar. Ich will dich haben.« Er stockte ob des peinlichen Versprechers. »Ich meine …«
Erin hob eine Hand. »Schon gut. Hab verstanden.« Sie machte eine Bewegung zum Besucherparkplatz, der sich eine halbe Meile entfernt auf der anderen Seite des riesigen Komplexes befand. »Ich sollte mich so langsam auf den Weg machen.«
»Ich bin in einer halben Stunde fertig hier. Gehen wir noch einen trinken?«
Erin schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht …«
»Bloß auf einen Drink, Erin.«
»Es ist Freitag, da hat Marta ihren freien Abend, und ich gehe mit Janie Pizza essen. Außerdem hab ich noch eine lange Heimfahrt vor mir.«
»Dann lad mich doch ein!«
Das kam überraschend, und fast hätte Erin Ja gesagt. Trotz ihrer
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