Die Dunkle Erinnerung
Familie, die sie voll und ganz beanspruchte, hatte sie sich im vergangenen Jahr sehr einsam gefühlt. »Ich glaube, das ist keine so gute Idee.«
Janie hatte schon zu viele Verluste erlitten. Erin würde ihr nicht auch noch Männer vorführen.
»Okay, wie wär's dann mit morgen? Ich komme vorbei und lade euch beide zum Essen ein.«
»Ich kann nicht.«
Bill zögerte kurz. »Du musst nicht alles allein tragen, Erin.«
Sie wusste genau, was er meinte. »Doch, das muss ich. Es ist meine Familie, meine Verantwortung.«
»Erin …« Er wollte noch etwas sagen, besann sich dann aber eines Besseren. »Okay. Aber wenn du mal Hilfe brauchst …«
Erin berührte seine Hand. »Du bist ein guter Freund, Bill.«
»Ich wäre gern mehr.«
»Ich habe nicht mehr zu geben.«
Er schien noch etwas sagen zu wollen, ließ dann aber ihre Hand los und trat einen Schritt zurück. »Okay, dann geh. Hast ja 'ne Kleine, die auf dich wartet.«
Mit gequältem Lächeln wandte Erin sich ab und machte sich auf den langen Weg über das Gelände zum Parkplatz. Sie hatte soeben einen guten Mann versetzt – einen Mann, der sie verstand, besser vielleicht, als sie selbst es konnte. Doch außer ihrem Job gab es keinen Platz für irgendetwas außer Janie und Claire. Das war die Wirklichkeit, mit der sie fertig werden musste.
2.
ZweiStunden später bog Erin in die Einfahrt ihres kleinen zweistöckigen Backsteinhauses in Arlington ein, einem der ruhigen Vororte Washingtons. Erin hatte das Haus vor zehn Monaten gekauft und Janie und Marta sofort aus Florida hierher geholt.
Sie hatte sich niemals vorgestellt, ein Haus zu besitzen oder in einem Vorort zu wohnen. Doch nach dem Tod ihrer Mutter hatte sich ihr Leben radikal verändert. Janie brauchte ein Heim, eine Familie, in der sie aufwachsen konnte. Auch wenn diese Familie aus einer unkonventionellen Tante, einer alten Freundin ihrer Großmutter und einer Mutter bestand, die in den letzten sieben Jahren immer wieder Insassin in Heilanstalten gewesen war.
Als Erin durch die Hintertür rauschte, blickte Janie vom Küchentisch auf und grinste. »Guck mal, was ich gemalt habe, Tante Erin.«
Erin spürte, wie ihre Laune sich besserte. Gleichviel, wie frustrierend die Arbeit war, dieses kleine Mädchen brachte Licht in ihr Leben. In den letzten Monaten war es ihr mehr und mehr bewusst geworden. Nie hätte Erin sich als besonders mütterlich bezeichnet, doch ihre Nichte hatte sich einen Platz in ihrem Herzen erobert.
Sie machte die Tür zu und kam zum Tisch, um Janies neuestes Werk zu begutachten.
»Gefällt es dir?« Janie blickte sie mit großen Augen an. »Ich hab's für Mommy gemacht. Sie soll sehen, wie meine neue Schule aussieht.«
»Sieht toll aus.«
Janie hatte unbestreitbar Talent. Selbst Erin, die mit Kindern keine Erfahrung hatte, konnte erkennen, wie begabt die Kleine war. Sie hatte mit Buntstiften ihre Schule gemalt, eine dreistöckige Monstrosität aus braunen Klinkern. Die Flagge war gehisst, und in den Fenstern hingen Kinderzeichnungen. Auf dem Bürgersteig vor der Schule spazierte ein kleines Mädchen mit blonden Locken, flankiert von zwei Frauen.
In der Frau rechts erkannte Erin sich selbst: eine hagere, mittelgroße Person mit dichtem dunklen Haar – ihr einziges Plus, wie sie meinte. Sie trug ihr Haar kurz, weil sie nicht die Geduld aufbrachte, es ausgiebig zu pflegen, doch auch so sah es immer noch wüst aus. Links von Janie stand Marta: klein, alt, rund und mütterlich.
Erin hatte Janie beigebracht, den Dingen Aufmerksamkeit zu schenken, ihre Umgebung zu beobachten, auf Kleinigkeiten zu achten. Auf Menschen. Doch die Begabung, all dies auf Papier auszudrücken, hatte das Mädchen sich allein erworben.
»Das war mein erster Schultag«, sagte Janie. »Weißt du noch? Als du mitgekommen bist?«
»Aber ja«, sagte Erin. Janies Talent, einmal gesehene Dinge aus dem Gedächtnis auf Papier zu bringen, ging weit über die Fähigkeiten einer Siebenjährigen hinaus, fand Erin. »Und ich weiß noch genau, welcher Tag es war.« Liebevoll fuhr sie ihrer Nichte durchs Haar.
In diesem Augenblick kam Marta mit dem Wäschekorb in die Küche. »Du bist aber früh da.«
»Hab Glück gehabt. Heute wollte keiner der Studenten was von mir. Warte, ich helfe dir.« Erin ging auf sie zu.
»Nun mach nicht so einen Aufstand.« Marta wich ihr aus und strebte zur Kellertür. »Ich bin vielleicht nicht mehr so jung wie andere, aber einen Korb mit schmutziger Wäsche kann ich schon noch
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