Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)
Sofort hatte ich das einzige Auge vor mir, das dem armen alten Herrn Gebhardt da oben verblieben war, ein seltsam lebendes Auge, als schaue wer durch dieses Auge von oben auf uns herab, ein frisch Dahingeschiedener, der noch immer nicht glauben kann, dass er jetzt tot ist. „Ich kenne den“; hatte ich gemurmelt, „der Gatte von Lydia Gebhardt“, und Vika hatte nur mit einem „aha“ reagiert. Gebhardt also der ominöse Jean-Pierre Pacques? Sah verdammt danach aus.
Vika stellte fest, dass Gebhardt / Pacques zuerst erschlagen worden sein musste, bevor man sich sein Büro in Vandalenmanier vorgenommen hatte. Dann war es an der Zeit, die Räumlichkeiten zu verlassen. Wir taten es ruhig und ohne Panik, wir küssten uns für die Galerie der möglichen Zeugen, die sich nur an ein harmloses Liebespaar erinnern würden, wenn man sie befragte. Entfernten uns händchenhaltend, wenigstens bis wir um die nächste Ecke waren, dann unterließen wir auch das. Als wir innerhalb der Altstadt waren, machte ich den Vorschlag, die Nummer mit dem Küssen aus Glaubwürdigkeitsgründen zu wiederholen. Und wäre es nicht auch ratsam, die Hotelangestellten Stein und Bein schwören zu lassen, wir hätten es ganz furchtbar miteinander getrieben? Ich schwöre, das war nur so dahergesagt, ein leicht schlüpfriger Scherz eines schwer schlüpfrigen Mannes. Vika überlegte ein paar Sekunden, sagte „okay, das leuchtet mir ein“ – und diesmal ließen wir weder die Kirchen im Dorf noch die Zungen in unseren Mündern.
Danach hatte ich ein schlechtes Gewissen. Als sie neben mir lag und rauchte, als ich neben ihr lag und ebenfalls rauchte, wir waren „zu ihr gegangen“, am verständnisvoll nickenden Portier vorbei, dem wir das frischverliebte Pärchen glaubhaft vorspielten, das nicht schnell genug auf die Matratze kommen kann. Doch, ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich ein gutes Gefühl hatte. Dachte an Hermine. Würde es ihr gestehen müssen. Liebe Hermine, es war rein beruflich, wir haben die Nummer wortwörtlich durchgezogen, Vika in einer Extralautstärke gestöhnt, damit das Zimmermädchen in festem Glauben bei der Polizei aussagen würde: Ou oui, die haben es fürchterlich miteinander getrieben. Also null Gefühle. Und du weißt ja, wie das ist. Männer beherrschen das da unten überhaupt nicht, das Ding heißt Schwellkörper, weil sich das Blut drin staut, da kann Mann nix für, das ist eine Laune der Natur. Ob sie mir verzeihen würde? Ich musste es darauf ankommen lassen.
Ich betrachtete Vikas nackten Körper, als er sich vom Laken hob und Richtung Bad bewegt wurde. Immerhin: Es hätte schlimmer kommen, Oxana mir einen Mann hinterher schicken können oder eine Frau, die nicht so mein Fall gewesen wäre. Ich lauschte dem Rauschen des Duschwassers, lag auf dem Rücken, die Hände unter dem Kopf verschränkt. Der Kopf. Gebhardts Kopf. Kein schöner Anblick. Dieses eine Auge, das uns interessiert zu beobachten schien. Gebhardt auf seiner Wolke, mit Harfe und einer Willkommensration Manna. Nein. Der Mann würde in der Hölle schmoren.
214
Auf der anderen Seite meiner Lider schnaufte die Monotonie des kurzatmigen Zuges. Sie streichelte mich zärtlich in den Dämmerschlaf, besänftigte meine Gedanken, deckte sie endlich mit Langeweile zu. „Fahr zurück“ hatte mir Vika in der Nacht gesagt. Wir lagen nebeneinander, ganz brav, nur um den Schein zu wahren. Morgen früh würde das Zimmermädchen mein Bett unberührt vorfinden und sich seinen Teil denken, gut so. „Warum?“ fragte ich so mechanisch wie überflüssig, „weil du hier nichts mehr zu tun hast“, antwortete Vika ebenso. Ich roch sie und sie roch mich. Wir liefen über einen imaginären Jahrmarkt zwischen Ständen mit Zuckerwatte und gebrannten Mandeln, Rostwürsten und Pommes, aber wir kauften nichts.
Vika würde bleiben. „Ich muss rüber nach Jersey“, sagte sie. Noch einmal fragte ich „Warum?“ und noch einmal antwortete Vika, diesmal stumm mit einem Handschlag auf die Bettdecke. Gegen acht hockten wir im Frühstücksraum, immer noch stumm. Schließlich sagte sie: „Ich werde hier noch zwei, drei Tage die Augen offen halten. Das ist mein Job. Ich bin Privatdetektivin und bisher hab ich meinen Job scheiße gemacht.“
Das erinnerte mich an etwas. Ich erzählte ihr von Georg Weber und der tragischen Liebesgeschichte, von jenem erpresserischen Privatdetektiv, der mitgeholfen hatte, ihn von seiner Geliebten zu trennen. Der Typ mit dem komischen
Weitere Kostenlose Bücher