Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)
dem Tor zu, Laura drehte sich um, schickte dem Onkel ein letztes Winkewinke, der aber hatte sich schon umgedreht und schritt akkurat die Treppe hoch. Noch einmal: „Und?“ Jonas nickte. „Gibt einen Hintereingang. Is auch offen, habs probiert. Aber wie kommen wir wieder aufs Gelände? Noch mal klingeln geht wohl schlecht.“ „Ja“, bestätigte Laura. „Aber wir laufen mal um den Zaun rum. Wird uns schon was einfallen.“
Wie gut, dass man immer einen Laptop im Kofferraum mit sich führte. Hochfahren und einloggen. Sich einen schönen Text überlegen, eintippen, abschicken. Marxer lächelte noch immer. Der Zeitfaktor war die Unbekannte. Bis die Sache ins Laufen kam, würde mindestens eine Stunde vergehen, vielleicht sogar zwei. Dann aber ein großes Hallo, Großmuschelbach! Er würde das Fotogeschäft vom Wagen aus beobachten, was immer dort vorging, es war nicht der Ort für eine Bluttat.
„Hier könnten wir doch rüber, nicht?“ Tatsächlich war der Zaun an dieser Stelle nicht ganz so hoch. Keine Häuser in der Nähe, von denen aus man Eindringlinge hätte sehen können, kein Hund bewachte die Villa, die lag ruhig und friedlich auf der anderen Seite des Hindernisses. Jonas sagte „Hm, versuchen“. „Cool“, fiel Laura in ihren frugalen Wortschatz zurück. Jonas spuckte in die Hände.
Eine Stunde. Jetzt aber so langsam. Marxer schaute in den Rückspiegel, die Straße lag noch immer regungslos, nichts bewegte sich in den Häusern, es war gespenstisch. Ein Geräusch? Ein sich näherndes Auto? Tatsächlich, jetzt sah er es. Und noch eins dahinter. Und noch eins und noch eins.
Marxer stieg aus, nahm den Wagenheber aus dem Kofferraum, wog ihn in der Hand. Gutes, schweres Stück, so hart konnte kein Kopf sein. Schnell rüber damit in den Hof, an die Hintertür. Die Autos hatten inzwischen den Fotoladen erreicht, Türen wurden geöffnet, zugeschlagen, munteres Stimmengewirr. Noch mehr Autos, noch mehr Stimmen, ein beständiges Murmeln. Auch wieder die Stimmen hinter der Haustür. Diesmal lauter, fast panisch. Ein kleiner Tumult, jetzt die Stimme einer Frau. Oxana? Nein, diese hier war kräftiger als das dezente Organ der Kasachin. Etwas fiel um, jemand schrie. Jetzt, Marxer. Er drückte auf die Türklinke.
Jonas drückte auf die Türklinke. Offen. Hatte er doch gesagt. Laura: „Cool“. Sie gingen hinein, ein langer Flur. Jetzt keinen unnötigen Lärm machen.
Dieser Lärm! Marxer hob das schwere Metall und stürzte mutig dem Raum zu, aus dem der Lärm kam. Was er sah, überraschte ihn doch sehr. Aber nicht sehr lange. Dann spürte er einen Griff am Hals, ihm wurde schwarz vor Augen.
262
Mauritz Kriesling-Schönefärb hatte es nie leicht gehabt im Leben, denn es war nie schwer genug gewesen. Die Dialektik der privilegierten Geburt, so sein Soziologieprofessor, du bist einfach ein verweichlichter Warmduscher, so seine Ex Susanne, bevor sie mit Papas Geld in Cambridge zu studieren anfing. Als Sohn eines Managers (mittlere Führungsebene) der mittelständischen Industrie gnadenlos in eine Jugend des Wohlstandes gepresst, fiel ihm das Lernen leicht, ebenso der Kontakt zum anderen Geschlecht. Hindernisse wurden, wenn sie denn auftauchten, mit eleganter Nonchalance überwunden und so träumte sich Mauritz Kriesling-Schönefärb locker durch sein Dasein, das eben da war, nichts weiter, nicht erkämpft werden musste, narbenlos und mit jener Beiläufigkeit seinem Ende zu lief, von dem der Dichter sagt, es sei wie der Anfang, nur ein paar Jahre später.
Darum litt Kriesling-Schönefärb wie ein Hund. Doch erst jetzt, als diese drei Gestalten ins Freie traten, wurde ihm bewusst, dass das Leben auch anders sein konnte: riskant, ja, tödlich, schmerzhaft, schmutzig wie seine Schuhe und Hosenbeine. Er musste handeln. Eine Frau befand sich in höchster Gefahr für Leib und Leben. Ein Slogan, etwas Griffiges musste ihm einfallen, sofort.
Jetzt, sofort. Irmi ließ den Schirm nach vorne schnellen, zielte mit seiner Spitze auf des Konrads Gemächt und stach zu. Ein fürchterlicher Schrei erschütterte Mark und Beine, detonierte an den Wänden, zugleich stürzten sich die Zwillinge auf den Rainer und machten ihm klar, dass Furien kein mythologisches Hirngespinst waren, sondern kratzende, beißende, ihre Knie in Weichteile versenkende Realität. „Und jetzt raus hier, Mädels“, kommandierte Irmi, einen befriedigten Blick auf die am Boden sich krümmenden Männer werfend. Es ging ihr plötzlich saugut.
Ein
Weitere Kostenlose Bücher