Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)
einem noch nicht mal vernünftig die Hände auf den Rücken binden. Zum Glück. Sie würde es schaffen. Brauchte etwas Zeit und tat den Zähnen nicht gut, wohl aber der Lebenserwartung.
Endlich war es ihr gelungen, ein Stück der dünnen Schnur mit den Zähnen zu fassen. Ziehen. Kopf nach hinten uuuuuund... Klappte nicht. Die Schnur flutschte weg. Noch einmal, nicht aufgeben. „Aua“, fauchte Lydia, „du kugelst mir ja die Schulter aus.“ Vika machte sich nicht die Mühe einer Antwort. Die Schnur. Fest zubeißen. Ja!
Lydia Gebhardt rieb sich erst einmal die Handgelenke, setzte sich auf, drückte das Kreuz durch. Sah dann rüber zur ebenfalls sitzenden Vika, die ihr die gefesselten Hände hinhielt. „Hm“, machte Lydia. „Wer bist du eigentlich? Polizei? Konkurrenz?“ Aha, wie erwartet. Madame spielt die Undankbare, den eiskalten Engel. „Ok, versuch halt selbst, hier rauszukommen. Vielleicht begegnet dir Honey unterwegs? ICH kann Karate. Du auch?“ Die Kraft der guten Argumente.
Frei. Und jetzt? Die Tür war, wie erwartet, abgeschlossen und machte nicht den Eindruck, vor einer Haarnadel im Schluss Angst zu haben. Kein Fenster. Lydia stöhnte und legte die nächste Heularie an. „Halt einfach die Fresse“, sagte Vika. Wenn sie Pech hatten, würden sie mit freien Händen sterben. Lieber nicht dran denken, wie ab einem bestimmten Punkt des Hungern und Dürstens die Geschichte eskalieren und in Richtung Kannibalismus abgleiten würde. Sie, Vika, war immerhin weitgehend ein Bioprodukt. War Lydia überhaupt genießbar? Der McDonalds unter dem Menschenfleisch? Da beißt du einmal rein und schon kriegst einen Damenbart oder sonst was. Schlechte Aussichten.
„Wir müssen warten, bis einer von denen kommt.“ Damit beruhigte sie sich selbst. Aber warum hatte man sie überhaupt aus dem Verkehr gezogen? Welche Gefahr stellte sie dar? Was wollte man von ihr? Irgendwann würde jemand erscheinen, nachschauen, was die Damen so machten, ob sie noch lebten. Also abwarten und, wenn es soweit war, den Besucher hinter der Tür überraschen, professionell ausschalten.
„Wir müssen sterben!“ Natürlich die Gebhardt, jetzt in der Ouvertüre zu einer tragischen italienischen Oper. „Ja, müssen wir wohl“, bestätigte Vika. „Und wenn du nicht gleich die Fresse hältst, kriegst einen schnellen Tod.“ Sie schwieg tatsächlich und stellte die Produktion der Sekrete ein.
Hunger. Durst. Der Durst war schlimmer, keine Überraschung. Jetzt könnte man selbst eine Runde heulen, dachte Vika. Sie tat es. Innerlich.
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Aus den in loser Zettelform archivierten Sudeltagebüchern des Kriminalautors Marxer:
Zettel 19374: Anruf Verleger, wg. neuer Story. Verspreche ihm True Crime, schwer politisch mit erotischen Ausdünstungen. Der Mann ist sofort begeistert und steht kurz vor der Onanie. Auflegen. Flaues Gefühl in der Magengegend. Politische Verwicklungen, im Fokus des Verfassungsschutzes. Ich sollte es nicht zu sehr übertreiben mit dem True Crime.
Zettel 19401: Oxana kommt heim. Mundfaul. Mit Klein unterwegs gewesen, ausgerechnet mit dem! Zieht sich um. Vor meinen Augen. C&A-Unterwäsche, aber sie könnte überhaupt keine tragen und wäre dennoch erotischer als alle Heidi Klums dieser Welt. Noch maulfauler danach. Erzählt von einem Tattoostudio, einem schrägen Vogel namens Ouzo. Aha. Klein wolle sich der Sache annehmen. Sorge um Vika.
Zettel 19402: Vika! Noch nie gesehen, aber die Stimme! Gerade eine überraschende Erektion, prima, wird sofort sublimiert und in Literatur umgewandelt.
Zettel 14698: Die Metzgerei gegenüber bietet „High End Land Leber Wurst“ an. O tempora o mores!
Zettel 15111: Auf Jersey wird nicht mehr getanzt. Tumultartige Ausschreitungen, Festnahmen. Ja, sind wir dort jetzt auch in New York oder was? Und was haben die Demos der Armen in der Wallstreet überhaupt mit Jersey und Island zu tun? Wer steckt dahinter? Und was ist auf Island los? Die Nachrichten: nichts als Schweigen. In China fallen Reissäcke um und ausgebrannte Arbeiter aus den Fabrikfenstern.
Zettel 15 148: Noch einmal Verlegeranruf. Bitte diesmal mit Ritualmord, die Leiche hübsch geschändet, ausgeweidet, geschmückt. Ein Krimi sei immer auch eine ästhetische Angelegenheit. Ich grummele Unverständliches in den Hörer, verlange die Jahresabrechnung. Der Verleger vertröstet mich. War klar.
Zettel 15376: Beschließe verzweifelt, künftig nur noch Gedichte zu schreiben und dafür mit 80 den Nobelpreis zu bekommen. Wie
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