Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)
nass auf den Hinterkopf: „Aha, Besuch.“ War das der Mann, der mir gefolgt war? Eine eher jugendliche Stimme. Sie sagte sodann, an das Septett gerichtet: „Das ist Herr Dingsbums von der Oh Tannenbaum AG. Er möchte uns als Shareholder für seine Gesellschaft gewinnen.“
Hm, dachte ich, kaum gibt man den Hartzern fünf Euro mehr im Monat, schon gründen sie einen Hedgefonds. Der spitze Gegenstand in meinem Nacken drückte penetranter und drohte mit massiver Körperverletzung, ich machte einen Schritt nach vorne und noch einen, genauso wie es wohl beabsichtigt war, bis ich mich als Teil des Septetts, nun ein Oktett, wiederfand.
„Ok, Herr Dingsbums“, sagte meine zufällige Nachbarin, eine blasse kaum 16jährige Vorstadtschönheit, „dann dax mal bis der Bulle kommt, aber wenn der Bär in Richtung leverage steppt, kommst du etagenmäßig unter EZB-Zinsniveau und siehst den Nikkei-Index offshore.“
Ich verstand kein Wort, aber alles war mir klar. Der Joint kreiste schneller und erreichte mich, „zieh“, sagte ein Junge und ich zog. „Und jetzt sing ein Weihnachtslied, Mann von der Oh Tannenbaum AG“, sagte ein anderer, und der Mann von der Oh Tannenbaum AG sang ein Weihnachtslied.
„Oh Tannenbaum, Oh Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter. Du blühst nicht nur zur Sommerszeit, nein auch im Winter, wenn es schneit.“
Stille. „Und jetzt die zweite Strophe“, forderte es von links. Ich hatte nicht gewusst, dass das Lied überhaupt eine zweite Strophe sein eigen nennt, doch die Forderung wurde von dem spitzen Gegenstand in meinem Nacken bekräftigt und also sag ich die zweite Strophe.
„Oh Weltabschaum, Oh Weltabschaum, wann kommt denn der Erretter? Du sitzt in deinem Bankenturm, du ekelhafter Börsenwurm, oh Weltabschaum, oh Weltabschaum, wann kommt denn der Erretter!“
Ein Mädchen begann zu flennen und schluchzte „schön“. Der spitze Gegenstand in meinem Nacken zog sich ein wenig zurück. Wieder erreichte mich der Joint, wieder zog ich und merkte so allmählich, dass die Welt gar nicht so schlecht war, wie ich immer gedacht hatte. Der spitze Gegenstand wurde aus meinem Nacken genommen, sein Besitzer stellte sich neben mich, es war ein winziges Bürschchen, das seinen wirklich spitzen Fingernagel massierte und sagte: „Ok, Mann von der Oh Tannenbaum AG. Du bist cool und wir kaufen deine Scheißpapiere. Aber gib mal zuerst Boni.“
Ich zog den Fünfziger, den mir Regitz in die Jackentasche gesteckt hatte aus derselben und sah ihn blitzschnell in der Jackentasche des Kleinen mit dem spitzen Fingernagel verschwinden. Und das tat ich denn auch. Ein wenig gelockert taumelte ich wieder auf die Straße, sah nach links, sah nach rechts, sah niemanden und grinste den Schnee an. Noch einmal: Wo war ich? Scheiß drauf. Ich ging einfach weg.
36
Möglicherweise war es windstill geworden und hatte aufgehört zu schneien. Keine Ahnung. In meinem Kopf wirbelten die Flocken weiter, und die Flocken sahen wie Hirnzellen aus, aber es waren so viele, dass es nicht meine sein konnten. Ich irrte noch immer durch die Straßen der nächtlichen Stadt, die nicht aussah als kenne ich sie. Und vielleicht war ich wirklich längst woanders, in Amsterdam oder London, egal. Nein, konnte nicht sein. Denn diese Straße hier kannte ich. Es war die Straße, in der Lothar Habdennamenvergessen wohnte.
Dass zwei Züge an einem Joint imstande gewesen waren, mich in eine Euphorie der Trunkenheit zu kicken, wunderte mich. Und doch auch wieder nicht. Wann hatte ich mein letztes Hascherlebnis gehabt? Muss 1972 gewesen sein, beim Misstrauensvotum der CDU gegen Willy Brandt. Mit einigen Kumpels hatte ich dem Spektakel vor dem Radio gelauscht, fest entschlossen, im Falle einer Entmachtung unseres Idols schwer Krawall zu schlagen und die Republik in Schutt und Asche zu legen. Na ja, wenigstens den Mülleimer von Herrn Döpfer, einem Rentner aus der Nachbarschaft, der ein „Franz-Josef Strauß Addict"-T-Shirt trug und Willy Brandt immer den „Herrn Frahm aus Norwegen“ nannte.
Wie alle diplomierten Historiker wissen, kam es anders. Wir feierten den Tag mit einem Joint aus eigenen Beständen, 15 Gramm bester Schwarzer Afghane, die ich kurz zuvor auf einem Rockfestival bei einem GI gegen mein altes Kofferradio eingetauscht hatte. Selige Jugendzeit, wo bist du nur hin.
Ich näherte mich Lothars Wohnung, es brannte Licht, jedenfalls glaubte ich das. Oder spielte mir mein verwirrtes Bewusstsein doch einen Streich? Denn
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