Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)
doch bestimmt.“ Das auf jeden Fall, bestätigte Oxana.
Draußen neben der Wirtshaustür hing ein neues Schild. „Wir weisen unsere Gäste bereits vorsorglich darauf hin, dass es während der Liveübertragungen anlässlich der Fußball-Europameisterschaft strikt untersagt ist, für folgende Mannschaften Sympathie zu äußern: Italien, Holland, Spanien, England“. „Hat Mohamad vorhin angebracht“, erklärte Oxana, „seit der Deutscher ist, benimmt er sich auch wie einer. Und du willst wirklich zu Fuß heimgehen? Bei der Kälte?“
Ja, wollte ich. Die Kälte, die Bewegung, das würde mir gut tun. Ich war nicht so pflichtbewusst deutsch wie Mohamad, aber die Aufgabe, für die ich nebenbei fürstlich entlohnt wurde, reizte mich. Das Glück der Bürger. Okay, es sollte ein Abstellgleis sein, ein Versorgungsposten, damit man die Klappe hielt. Aber es könnte auch etwas anderes sein, ein Podium, von dem aus man den Kampf mit anderen, sehr viel eleganteren Mitteln führen konnte. Welchen Kampf? Den um Gerechtigkeit? Wenigstens den um Recht? Diese Fragen wollte ich jetzt nicht beantworten.
Ich spürte die Kälte nicht, ich dachte nach, ich wich Verkehrsschildern und völlig vereisten Mülltonnen aus, ich spürte meine Füße nicht, ich hörte nichts sonst als die debattierenden Stimmen in mir, meine eigene Talkshow, leider ohne Frau Illner, der Herr sei gedankt ohne Herrn Marxer. Tiere im Zoo, so hat man festgestellt, verlieren mit der Zeit ihr natürliches Alarmsystem. Sie brauchen es ja auch nicht mehr. Auch ich hatte keinen Grund, die freie Wildbahn, durch die ich streifte, für etwas anderes zu halten als ein Spielgelände mit Kinderbelustigungen. Niemand war mehr hinter mir her. Die Feinde von Amtswegen hatten mich gekauft – oder glaubten, mich gekauft zu haben – und die anderen bösen Buben waren verschwunden, saßen im Knast oder waren anderweitig ausgeschaltet. Regitz und Co. hatten wir hinter verschlossener Tür im Bergwerk zurückgelassen, gewiss waren sie längst von den Ravern befreit worden. Also? Gefahr? Gab es nicht.
Gab es doch, aber ich bemerkte sie zu spät. Hörte nicht die Schritte hinter mir, die immer näher kamen, näher kommen mussten, denn sonst hätte mir der Mann nicht seinen Unterarm gegen den Kehlkopf drücken, meinen Fortgang abrupt beenden können. Ich fiel ins Kreuz, mir wurde für einen Moment schwarz vor Augen, ich hatte Mühe, mich auf den Beinen zu halten. „Schnauze“, zischte es hinter mir. „Lassen Sie meine Schwester Sonja in Ruhe!“
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Wie furchtbar! Was für ein Albtraum! Sofort aufwachen, Marxer! Was er auch tat. Sich im Dunkeln orientierte, seinen keuchenden Atem hörte, sein schnell pochendes Herz. Erst einmal die Kontrolle über sich selbst gewinnen. Nachttischlampe einschalten. Oh. Mein. Gott. Der Supergau.
Marxer hatte geträumt, etwas sei passiert, ein unvorhergesehenes Großereignis, eine Katastrophe, und Maybrit Illner hätte das Thema ihrer Show verändern, aktualisieren müssen! Okay, ein Sterbefall. Nicht Whitney Huston, aber vielleicht... irgendein Altkanzler. Oder, noch schlimmer, ein Attentat! Griechenland erklärt sich offiziell für bankrott, in den Straßen Athens tobt der Bürgerkrieg! Oder Peter Scholl-Latour mailt, er habe gerade einen Abend frei und würde sich gerne ausführlich zur arabischen Lage auslassen. Man bekäme eine lapidare Nachricht. „Thema gecancelt, vielen Dank für Ihre Bereitschaft, mitzuwirken, wir melden uns wieder.“ Und kein Schwanz würde sich wieder melden, das war doch klar, das wusste man im Voraus.
Er beruhigte sich allmählich. Konnte aber nicht mehr einschlafen, sah auf die Uhr, kurz nach drei, okay, er hätte eh um fünf aufstehen müssen. Also Kaffee kochen. Oxana wecken? Nein, er war schließlich kein Sklavenhalter, kein Unmensch. Aber eigentlich könnte die Tante wirklich aufstehen und sich ein wenig um ihn kümmern. Er schlich zu ihrer Tür, er horchte, er hörte sie leise schnarchen. Tappte demonstrativ laut über den Flur zur Küche, hustete. Das müsste doch reichen.
Nein, das würde nicht schiefgehen! Er hatte gestern Abend noch mit seinem Verleger telefoniert, etwas, das kein Autor gerne tut, denn die Burschen beginnen sofort zu klagen. Dass sie ihre Familien nicht richtig ernähren können, weil leider nicht genügend Bücher verkauft werden, sie steigern sich in Verbalinjurien, diese Arschlöcher von Rezensenten, diese Ausbeuter von Buchhandlungen! Dieses Mal war das Telefonat
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