Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)
ihren Brüdern im Geiste in Großmuschelbach, Lieferanten von Grundnahrungsmitteln unter sich, gewissermaßen.
Hat sich das Tal erst einmal verengt, das heißt die ausgestreckte Schöne sich zusammengerollt (was sie häufig tun, wenn sie Migräne haben oder einfach „keine Lust“, man kennt das ja zur Genüge), erwartet anmutige Landschaft gepaart mit häuslichem Fachwerk den Besucher, also mich, der ich dem Zug entstieg, von einer reichlich ramponierten Begrüßungswand „Willkommen in Großmuschelbach – Home of the free bird“ in Empfang genommen wurde und nach erster flüchtiger Orientierung meinen Schritt zum einzigen sichtbaren Laden lenkte: „Krause – excellente Photographien und Daguerre’ischer Bedarf“.
Weit und breit keine Menschenseele, was an der Mittagszeit liegen mochte, von der die Gerüche kündeten, die durch Fenster- und Türritzen zogen und sich unsichtbar auf das Schneeweiß und Matschgrau legten, unter denen wiederum Dächer und Hügel verborgen waren. Es roch? Nein, korrigiere, es stank. Nach Kohl und Kartoffeln, altem Bratfett und jungen Frikadellen, nach Geflügel, das wie im Mittelalter die Hexen inbrünstig verbrannt wurde, auch nach Spülwasser, Maggi und anderen Ingredienzien diabolischer Küche.
Überhaupt glänzte der Ort in einer seltenen Schäbigkeit, die meine Erwartungen übertraf und verständlich machte, warum es die Webers hier nicht ausgehalten und die Hässlichkeit der Großstadt vorgezogen hatten. Waren vorhin überhaupt andere Reisende mit mir ausgestiegen, waren welche eingestiegen? Ich erinnerte mich nicht genau, aber genauso war es wohl gewesen. Als letzten hatte mich der RegioExpress ausgespuckt, bevor der Fahrer seinen Platz vom vorderen in den hinteren Wagen wechselte, denn Großmuschelbach war Endstation und besaß einen Sackbahnhof, der schleunigst unter die Erde kommen musste, so tot war, so tot würde er bleiben.
Ich öffnete die Ladentür, über mir klingelte es alterthümlich mit „h“, und ich betrat eine längst überwunden geglaubte Welt.
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Das erste was ich sah, war eine Art Nierentisch, wie man ihn aus Fernsehsendungen über die 50er Jahre kennt. Er stand mitten im niedrigen, vom matten Licht in beständiges Halbdunkel getauchten Verkaufsraum, dessen Wände von massiven verglasten Holzregalen verstellt wurden, tonnenschwere Relikte der Adenauerära auch sie und selbst das wenige Licht offenbarte, dass noch nie ein Mensch die Fingerabdrücke vom Glas gewischt hatte.
Auf drei grazilen Sesseln saßen ebenso viele Kinder im fortgeschrittenen Grundschulalter um den Tisch. Als sie mich erblickten, sprangen sie erschrocken auf, rannten um die Ladentheke – sie war aus dem gleichen Material wie die Regale, solide Fichte wohl – und verschwanden, „ein Fremder!, ein Fremder!“ rufend, im angrenzenden Raum. Von dort waren beruhigende Worte zu hören, welche tatsächlich fruchteten, denn es wurde still. Ein älterer Mann – nein, es war nicht Hans Albers, obwohl er ihm frappierend glich – trat ins Ladenlokal, fixierte mich und sagte: „In der Tat, ein Fremder. Potzblitz!“
Erst jetzt, da mich die Erscheinung des Alten hoch erstaunte, entsann ich mich der davonstiebenden Kinder wieder, ihrer ungewohnten Kleidung aus groben Stoffen, fadenscheinigen Jacken und zu kurzen Hosen, Hemden aus Leinen, die nicht aussahen als seien sie einer vorübergehenden Mode anzulasten. Das Schuhwerk war plump und, wie der Wetterbericht sagt, der Jahreszeit unangemessen. Es war eine Kostümierung aus der Verfilmung eines Charles-Dickens-Romans und der Alte gab darin den herzlosen Geschäftsmann oder den skurrilen Onkel oder irgendeinen der Pickwickier. Er trug das, was die Geschichte der Mode einen Bratenrock nennt; darunter eine dunkel gestreifte Hose sowie eine hellere, ob des beträchtlichen Bauchumfangs nur vom mittleren Knopf mühsam zusammengehaltene Weste, auf der die silberne Kette einer Taschenuhr durchhing, als sei sie die bequeme Hängematte für die Lasten vergangener Zeiten. Auch diese Kleidung war nicht aus den besten Stoffen gefertigt, spannte hier und schlabberte dort, wirkte indes weniger ärmlich als die der Kinder.
„Der Herr wünschen?“ fragte nun der Alte freundlich und beugte sein Haupt – man mochte diese Komposition aus dreifaltigem Fett, rotgeäderter Nase, üppigem Mund, abstehenden Ohren und beethovenesk in alle Himmelsrichtungen borstendem Haar wahrlich nicht Kopf nennen – und zog seine Taschenuhr hervor. Der Deckel
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