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Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)

Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)

Titel: Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Paul Rudolph
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sprang auf, „oh“, sagte der Alte, die Zeit ablesend, „sind der Herr etwa gar mit dem Eisenbahn angereist? Seit die Lokomotiven nicht mehr pfeifen, hört man es kaum noch.“
    Ich nickte nur verblüfft. All das war bizarr, ja, das dünkte mich der rechte Ausdruck, aber wieso „dünkte“? Ich starrte auf des Alten Hose und spielte mit dem Gedanken, sie künftig ein „Beinkleid“ zu nennen, „Pantalon“ klänge auch nicht übel. Zu seiner Nase „Gesichtserker“ zu sagen, verkniff ich mir aber, wir waren hier durchaus nicht im Tausendjährigen Reich, sondern ein gutes Jahrhundert früher. Die Taschenuhr war wieder in der Westentasche verschwunden und ich erwartete den Auftritt von Meister Henlein persönlich, der sich um die Genauigkeit der Zeitanzeige kümmern würde.
    „Der Herr also wünschen?“ wiederholte der Mann, „äh“ antwortete ich, mich langsam fassend, „nur eine Frage. Ich bin tatsächlich soeben mit dem Feuerwagen angelangt und fremd hier. Ein Freund meiner Jugend wohnt in diesem schönen Ort, ihn möchte ich besuchen, weiß aber nicht, wo er wohnt. Ob Sie mir vielleicht helfen könnten? Er heißt Georg Weber.“
    Weiter kam ich nicht.
     
     
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    Als umwehe ihn ein heftiger Wind, wankte der Leib des Alten, sein Fischmund formte ein stummes „Weber“, doch geschah dies in wenigen Augenblicken und war vorüber, als ich meiner Frage eine zweite, kürzere nachschickte, ein elliptisches und völlig überflüssiges „Kennen Sie zufällig....?“
    Der Alte schüttelte den Kopf und drehte ihn dem unsichtbaren, gleichwohl vorhandenen kindlichen Trio im hinteren Zimmer zu. „Max, nimm die Finger aus dem Entwickler, das ist Säure!“ Drehte den Kopf zu mir zurück und sagte mit seiner unschuldigsten Stimme: „Hier heißen alle Laumel, Binßheim, Kölsch, von Habicht oder Krause, so wie ich. Haben Sie noch einen Wunsch? Eine Daguerreotypie vielleicht?“ Jetzt war es an mir, den Kopf zu schütteln. Krause log, dieser aus der Zeit gefallene Dickwanst, der sich inzwischen umgedreht hatte, um Max die Finger aus dem Entwickler zu klopfen, so dass ich alleine im Laden verblieb, jetzt erst die Bücherwand zu meiner Linken bemerkte, ein schmaler Hort der Lesekultur mit einem biblisch ans Holz genagelten Blechschild „Leihbücherei, Romane à 5 Pfg, Krimis 10 Pfg“. In dünnes, milchiges Pergament eingebundene Scharteken von Zane Grey und Hedwig Courts-Mahler, Selma Lagerlöf und Charles Dickens, dessen „Bleakhouse“ mir desinteressiert den Rücken zukehrte, obwohl ich doch wusste, dass in diesem Roman ein seit über hundert oder mehr oder weniger Jahren anhängiger Rechtsstreit verhandelt wird. Aber was kümmerte mich das. Ich ließ abermals das Glöcklein über mir tönen, trat ins Freie, um dem Mief da drinnen zu entkommen, allein die frische und kalte Luft konnte mich nicht täuschen. Draußen roch es wie drinnen, ich lief schnell die Straße entlang und suchte das nächste Geschäft oder wenigstens einen Passanten, wobei mir auffiel, dass nicht einmal Autos zu sehen waren, potentielle Fahrer noch weniger.
    Hinter mir vernahm ich schnelle Schritte. Bevor ich mich umdrehen konnte, rannte schon ein kleiner Körper an mir vorbei, einer der drei Krausejungs, seine Schuhe schlappten, als wären die Sohlen locker. Er steuerte ein Haus an, das „Frische Kolonialwaren“ verhieß und verschwand darin. Gute Idee, dachte ich, danke mein Kind. Hatte die Klinke schon in der Hand, als eine andere, fremde Hand jenseits von Glas und Tüllgardine den Schlüssel umdrehte, die Tür verschloss. Ich klopfte gegen die Scheibe, rief ein obligatorisches „Hallo, hallo“, wusste aber, es musste vergebens sein.
    Im kleinen Schaufenster standen hübsche Blechdosen, auf denen dicklippige Schwarze, nur mit Lendenschurz angetan, Kaffeesäcke balancierten. Oder junge ceylonesische Fräuleins mir zwischen zwei Teeblättern zulächelten. Ein Weißer mit Tropenhelm und Schießgewehr, den Fuß auf dem erlegten Tiger. „Dr. Widenhopfs knusprige Sansibar-Cakes, nach Mama Tabules curiosem Geheimrezept im Vaterlande gebacken, nur echt mit der gütigen Empfehlung Seiner Excellenz, des Fürsten von Ueberreuth-Hugenschlumm."
    Heute fasste sich die Werbebranche wesentlich kürzer, dachte ich, aber wieso „heute“? Wo, wenn nicht im Hier und Jetzt hielt ich mich momentan auf? Es begann zu schneien, ich tappte die Hauptstraße hoch, von der kleinere abgingen und sich bergan zogen, ihr Ende nicht zeigen konnten, denn es war

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