Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)
nicht, also „Diktatur“, passt genau. So mümmelst du vor dich hin, gelangweilt in der U-Bahn oder sonstwo, das Heftchen in der einen, den Kuli in der anderen Hand, jemand hustet dir ins Ohr, jemand zieht dich mit Blicken aus und, oh Schreck!, sofort wieder an. Jetzt kommt’s! Du bist fast fertig, dann das: „Europäische Wirtschaftsinteressen in Tunesien“. Du betrachtest dir, was an Buchstaben schon da ist. „X_KK_PÜÜÜ_R“. Aber hallo, was soll das? Und klingt nicht schon die Frage wie die Antwort? Ja, tut sie, etwas ist schiefgegangen, reine Panik überschwemmt dich, doch du musst eh aussteigen und lässt den Rätselschmarren samt Kugelschreiber auf dem Sitz zurück für den nächsten Unglücklichen, wird aber auch in die Hose gehen, diesem Rätselheft entgehst du nicht, das Schicksal drückt es dir immer wieder in die Hand und zwingt dich, in ihm zu arbeiten, und das nennt sich dann Leben.
Daran dachte ich, als ich durch die morgendliche Stadt schritt. Es hatte kräftig geschneit, war kalt, der Himmel diesig, ein vorbeirauschendes, drohendes Meer über uns. Vor der Buchhandlung Schiller Sells, in der Sonja Weber ab nächsten Montag arbeiten würde, trollten sich zwei Weihnachtsmänner zwischen den Passanten, ein Transparent schwenkend, das den neuesten Thriller eines angesagten Autors pries. Wer stehenblieb, wurde mit einem Faltblatt bestraft und, fiel er darauf rein, in lebenslange Sicherungsverwahrung genommen. Eingesperrt in miserables Deutsch und die Nase zwischen die Gitterstäbe abgefuckter Dramaturgie geklemmt, nein, das hatte selbst die resozialisierungsresistenteste Krimimimi nicht verdient. Oder doch.
Sonja Weber. Ich kramte noch einmal das Rätselheft hervor, dieses Kreuzwortlabyrinth um Georg Weber, und mir war klar, dass ich ganz von vorne anfangen musste, sämtliche Einträge löschen, alles überdenken, mich kundig machen. Wenn du schon die ersten Wörter vergeigst, weil du einfach keine Ahnung hast, dann gewöhne dir an, mit Bleistift zu schreiben und einen Radiergummi in Griffweite zu halten, fluche meinetwegen, blase die Gummikrümel auf den Boden oder den Schoß deines Gegenübers in der Bahn, lass dir von diesem ein paar auf die Fresse geben, aber sei konsequent, beherrsche die Grundlagen, und die Grundlage von allem waren nun einmal die Webers.
Also auf nach Großmuschelbach, Home of Sonja & Georg, ein überschaubarer Ort im globalen Dorf, wo der Ausruf „Mist!“ noch wörtlich zu nehmen und mit strengen Gerüchen verbunden war. Hier konnte, musste nicht die Antwort auf eine Frage liegen, die noch niemand gestellt hatte, das erste Dominosteinchen, das, wenn es umfiel, andere zum Umfallen bringen konnte. So jedenfalls hoffte ich, und weil es eine halbwegs direkte Zugverbindung nach Großmuschelbach gab, schlenderte ich zum Bahnhof, löste einen Fahrschein und wartete geduldig auf Beförderung.
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Großmuschelbach erreicht man mit einer hochstaplerisch „RegioExpress“ getauften Bimmelbahn nach gut fünfzig Minuten und Umsteigen in Griesgrauweiler, Andersdorf sowie Kleinbörsig. Wie jeder weiß, schmiegt sich der Ort an die Hänge eines zunächst lieblichen, von leuchtend gelben Rapsfeldern für die Biokraftstoffproduktion beherrschten Tales, das sich später arg verengt und die Heimat der „Muschel“ ist, einer sehr seltenen Vogelart. Sie kann als pirolähnlich charakterisiert werden, zwitschert jedoch wie ein Kiebitz und sieht aus wie eine Elster, die sich für einen Diskoabend aufgebrezelt hat.
Warum die Muschel Muschel heißt, erschließt sich, wenn die Einheimischen zu reden anheben. Sie nuscheln nämlich. Der Vogel hörte ursprünglich auf den Namen „Morsel“, das heißt, er hörte selbstverständlich nicht, denn noch keinem Menschen ist es gelungen, die Muschel wie einen Kanarienvogel oder Papagei zu dressieren. An den Namen Morsel erinnern sich indes nur noch die Biologiehistoriker und selbst die nicht einmal.
Mit Industrie ist Großmuschelbach nicht reich gesegnet. Vor dem Ort, dort wo das Tal noch wie eine ausgestreckte Schöne auf dem Bett zwischen den Hügeln liegt, produziert eine Hähnchenmastfarm wertvolle und preiswerte Lebensmittel. Der idyllische Reibach (wenn er Hochwasser mich sich führt, wird er zur Plage) schlängelt sich an der Fabrik vorbei und leistet als natürlicher Gülletransporteur gute Dienste. Auf verschlungenen Wegen ergießt er sich in die Nordsee und erzählt dort dem neugierigen Seelachs, dem ebenso vorwitzigen Hering von
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