Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)
soll dann auch noch literarisch und hoch gebildet sein. Na, wie find ich denn das.“ „Und ein ganzes verfluchtes Dorf lebt davon“, sagte ich. „Das ist doch strafbar, oder?“ meldete sich Hermine zu Wort. „Tja, erst mal beweisen“, gab Borsig zu bedenken. „Ich hab doch die Handyfotos“, trumpfte Hermine auf.
Borsig hüpfte wie ein Gummiball vom Sofa auf die Füße. „Fotos? Du hast Fotos?“ Ich hatte keine Zeit mich zu wundern, warum er Hermine auf einmal duzte und die mit „Logo, du kleiner Springteufel“ dieses Du annahm. Hermine hatte den ganzen Zinnober fotografiert und schon saßen wir um den mürrisch seinen Job ausübenden PC. Hermine suchte das Verbindungskabel und fand es endlich.
„Den kenn ich!“ rief Borsig und zeigte auf einen Typen mit Backenbart. „Olaf Tassel, der hat hier den Arbeitgeberverband unter sich. Macht irgendwas mit Stahl.“ Er blieb nicht der einzige, den Borsig identifizieren konnte, eine wirklich saubere bessere Gesellschaft. „Die sind geliefert!“ jubelte die Speerspitze des örtlichen Proletariats, „wenn wir das dem SPIEGEL stecken oder wenigstens dem FOCUS...“ „Vergiss es“, wandte ich ein, „der SPIEGEL druckt nur noch Hitlerstories und der FOCUS veröffentlicht als Mitteilungsblatt der Analphabeten nur die Bilder. Und sag jetzt bitte nicht Fernsehen, sonst lach ich mich weg.“
Ich lachte aber nicht. Mir fiel plötzlich ein, dass man mir bis auf eine entbehrliche Unterhose alles geraubt hatte, Oberbekleidung, Schuhe, Geldbeutel mit Ausweis, Hausschlüssel. Ich würde mir Jonas’ Büroklammer ausborgen müssen, um in meine Wohnung zu gelangen. Borsig war es nicht besser ergangen.
„Vielleicht“, sinnierte ich, „gibt es eine andere Möglichkeit. Treffen mit dem Feind auf neutralem Boden und Austausch. Unsere Sachen plus Informationen gegen die Fotos.“ Hermine zögerte. Borsig bekam ein hinterhältiges Grinsen in die Fresse und sagte: „Genau. Für die das Fotozeugs und uns die Sachen und Infos – und ein paar große Scheinchen obendrauf. Trifft ja keine Armen.“ Ein Bombenargument, „alternativlos“, würde unsere Bundeskanzlerin jetzt sagen.
85
Ich kann allen um die eigene Sittlichkeit und die anderer Leute besorgten Leserinnen und Lesern versichern, dass die folgende Nacht sich völlig sexfrei in den Morgen schleppte, obwohl ich sie in Hermines Bett verbrachte. Borsig war gegen Zwei nach Hause gefahren, nicht ohne die Androhung, am nächsten Tag pünktlich zum Mittagessen wieder auf der Matte zu stehen. Jonas hatte sich nicht blicken lassen, das weihnachtliche Pokerturnier schien sich hinzuziehen. So lagen Hermine und ich nebeneinander und sinnierten. Hermine über Moral und Amoral von Erpressung, ich über eine andere Frau. Sonja Weber.
„Schläfst du schon?“ fragte meine Nachbarin und zog mich zärtlich am Ohr, damit ich bloß nicht mit „Ja“ antworten würde. „Nein“, antwortete ich. „Du?“ Sie ging auf den kleinen Scherz nicht ein und seufzte: „Ich mach mir Gedanken. Das ist doch nicht in Ordnung, was wir vorhaben, oder? Ich meine: Erpressung und so. Und dass wir damit einverstanden sind, wenn diese Schweine weiterhin die Kinder schuften lassen und diese Erniedrigung und diese dreckigen Leute mit dem vielen Geld und überhaupt, also ich komm damit nicht klar. Du etwa?“
Was sollte ich antworten? Dass ich nicht daran glaubte, die Welt würde besser, nur wenn man selbst ein besserer Mensch ist? Ganz zu schweigen von der drohenden Fälligkeit der nächsten Miete, Wasser- und Stromrechnungen, dem munter steigenden Ölpreis und der Spekulation um Nahrungsmittel. „Denk mal an die Leute in Großmuschelbach“, sagte ich leise, „von was sollen die leben, wenn sie nicht mehr ihre Show vorführen können? Die haben eine Marktlücke entdeckt. Spielen die armen Leute für die reichen Leute, das heißt, spielen müssen sie das gar nicht. Willst du die alle in Hartz IV schicken? Oder in irgendwelche Billigjobs? Ich hoffe doch, sie lassen sich anständig bezahlen. Obwohl wieder einmal die Großkopfeten den Reibach machen, dieser Dr. Habicht und die Zwillinge und – vielleicht auch Sonja Weber.“
Sonja. Sie stand vor mir in dieser Nacht, nein, saß vor mir. Eine vollendete Schauspielerin, die mich die ganze Zeit belogen hatte, obwohl – hatte ich ihr jemals geglaubt? Gut, das Dumme ist, ich glaube niemals jemanden, am wenigsten mir, und was ich zu Hermine gesagt hatte, war richtig und falsch und wahrhaftig und
Weitere Kostenlose Bücher