Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)
gelogen, das wusste ich auch. „Ja“, sagte Hermine jetzt, „es ist nicht leicht. Aber ich denke an die Kinder. Die sollten in vernünftige Schulen gehen und was Anständiges lernen und dann beizeiten raus aus diesem schrecklichen Kaff. Wir sind so selbstsüchtig, findest du nicht?“
Ich dachte an Hermine hinter der Aldi-Kasse, ich dachte an mich im Büro des Arbeitsamtes, Zweigstelle für Handlangerjobs, und antwortete: „Ja, das sind wir. Aber lass mich nachdenken, vielleicht fällt mir etwas ein. Eine Win-Win-Situation, verstehst du? Das sagen die Manager, wenn sie jemanden gleich zweimal übern Tisch ziehen. Ich rufe morgen bei diesem Habicht an und dann sehen wir weiter. Außerdem geht es nicht nur ums Geld. Wir brauchen Informationen und müssen den Leuten die Hölle heiß machen.“
Wir schliefen nur wenig in dieser Nacht. Gegen Morgen machte sich wer an der Tür zu schaffen, es waren Jonas und sein Zahnspangenmädchen, beide mussten tüchtig geladen haben, denn Laura schrie plötzlich so laut „cool!“, dass wir fast aus dem Bett gefallen wären und Jonas schrie noch lauter „Welcher Arsch war an meinem Kleiderschrank?“ Dann öffnete er die Tür zum mütterlichen Schlafzimmer, ein Blick genügte ihm, „die 20 Affen schenk ich dir diesmal, weil Weihnachten ist, außerdem hab ich heute 100 gewonnen“, schloss die Tür und rumpelte in die eigenen vier Wände.
„Hm“, sagte Hermine. „Wenn du schon 20 Euro sparst, könnten wir doch...“ Ich blinzelte durch die Ritzen des Rollladens, es war wohl keine Nacht mehr. Und einen sexfreien helllichten Tag habe ich meinen Leserinnen und Lesern nicht versprochen, oder?
86
Erster Weihnachtstag. Punkt vierzehn Uhr versammelte sich das Personal der Privatdetektei Moritz Klein, Ermittlungen und praktische Anwendungen der Chaostheorie, um den Frühstückstisch. Arbeitsessen. Die Auszubildenden Jonas und Laura wurden von den letzten Ereignissen in Kenntnis gesetzt und staunten nicht schlecht ("cool!"). Neuerwerbung Borsig monierte die Qualität des Frühstückseis ("das sollen viereinhalb Minuten sein?") und erhielt eine hermineutische Abmahnung.
Es gab aufgebackene Brötchen mit selbstgemachter Marmelade und einen beim Verzehr zerkauten Bericht von Jonas, der von „royal flushs“ und „streets“ handelte, von Laura mit wohlgesetzten „cool!"s in Sinneinheiten gegliedert und mit der Information gekrönt, er, Jonas, habe im Vorbeigehen erfahren, man nenne in der gehobenen Gesellschaft jene Events der Firma „Delikatess-Express“ auch „die 1500-Euro-Events“, „weil so viel musst blechen, wenn du da mitmachen willst, Sexorgien gehen extra.“ Borsig spuckte einen Schwarm Krümel auf seinen Teller zurück. „Dann wären dann bei 18 Personen – äh, Moment ...“ „27000 Euro“, spielte ich den Taschenrechner. „Oh leck“, sagte Borsig, „mein Gott“, Hermine, „tja“, Jonas und, wir trauten unseren Ohren nicht, „cool!“ Laura.
„Dann sahnen wir genau die Hälfte ab“, schlug Borsig vor, „das wären also – äh, Moment...“ „13.500“, half Hermine aus, mit skeptischer Denkerstirn allerdings. „Obwohl das ja nicht richtig ist, wisst ihr doch.“ Wir wussten es. Ich vertilgte das dritte Brötchen und sagte, eine Rede vorbereitend, schon mal „hm“. Meine Mitesserinnen und Mitesser verstummten. „Ich würde vorschlagen, wir treffen die andere Seite erst mal und treten nach Faktenlage in die Verhandlungen ein. Ergebnisoffen.“
Ergebnisoffen. Das klang wie: Keine Ahnung, was dabei rauskommt, und das klang nicht schlecht. „Egal“, sagte Borsig und meldete seine Ansprüche an: „Aber ich krieg ein Drittel.“ Hermine lachte, wie nur eine Frau lachen kann, die sämtliche Trümpfe in der Hand hat. „Pass auf, Kleiner. Die Fotos habe ICH. Die Informationen hat Moritz, also gewissermaßen auch ich. Du bist hier auf Probe, ein Praktikant, kann man sagen. 2000 Maximum und dann kannst springen.“ Borsig nickte. „Sag ich doch. Ein Drittel.“ Wir rühmten in Gedanken Borsigs Mathelehrer. „5000 jeweils für Moritz und mich, 2 Mille für dich und 1500 für Jonas und Laura. Auf ein Sperrkonto.“ Jonas holte empört Luft, sagte dann aber doch nichts, Laura verkniff sich ein „cool!“ und wischte sich mit der Serviette das Frühstücksei von der Zahnspange.
Dr. Habichts Telefonnummer stand im Branchenverzeichnis. Es klingelte dreimal, viermal, dann wurde abgenommen, ein knappes „Ja“ durch die Leitung geschickt.
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