Nashira - Talithas Geheimnis: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
Prolog
Die ersten Strahlen der beiden Sonnen weckten Grele in ihrem Bett. Zumindest das hatte sich in ihrem Leben nicht verändert: Wie auch in ihrem alten Zimmer, das sie im Kloster bewohnt hatte, war auch ihre neue Zelle nach Osten ausgerichtet, sodass schon im Morgengrauen das Licht der Sonnen sie streifte. Eine chaotische, notdürftige Ansammlung von Holzhütten bildete seit einiger Zeit den provisorischen Sitz des Klosters. Graf Megassa, der Herr von Messe und Vater des Mädchens, das für ihr, Greles, Unglück verantwortlich war, hatte es in aller Eile und auf eigene Kosten errichten lassen. Unweigerlich dachte sie jedes Mal daran, wenn sie die Fußbodenbretter unter ihren Füßen knarren hörte. Alles um sie herum kündete ihr von Talitha und von dem, was diese ihr angetan hatte.
Widerwillig setzte sie sich auf. Jeden Morgen erinnerte sie sich daran, wie schön früher das Aufwachen für sie gewesen war, welch tiefes Wohlgefühl sich eingestellt hatte, wenn sie im Licht von Miraval und Cetus die Augen aufschlug. Sie, die Herrin des Klosters – so hatte sie sich immer gesehen und an dieser selbstverständlichen Tatsache auch nicht gezweifelt, als Talitha zu ihnen gekommen war, der alle eine glänzende Zukunft prophezeiten. Denn als Tochter von Jane, dem König des Reichs des Herbstes, war sie, Grele, die aussichtsreichste Novizin des ganzen Klosters. Außerdem war sie die Lieblingsschülerin der einflussreichsten Priesterin, Schwester Dorothea. Lange und beharrlich hatte sie auf diese Stellung hingearbeitet und war sicher gewesen, nichts auf der Welt könne ihre Ernennung zur Kleinen Mutter verhindern.
Ihr Gesicht verzog sich zu einem verbitterten Lächeln, während sie ihre Kombattantinnengewänder anlegte. Wie naiv sie doch gewesen war. Damals hätte sie nie gedacht, dass in Talitha ein solches Maß an Bosheit, an Niedertracht steckte.
Sie dachte an den Moment, als sie die andere das letzte Mal gesehen hatte. Von Flammen umringt hatte Talitha vor ihr gestanden und auf sie, die im Todeskampf am Boden lag, hinabgeschaut. Dann hatte sie sich abgewandt und war verschwunden, hatte sie dort liegen lassen, damit sie in dem Feuer umkam, das Talitha im Kloster gelegt hatte.
Grele wusch sich das Gesicht mit ein wenig Wasser aus dem kleinen Keramikbecken, das im Zimmer stand. Dieses Becken war eines der wenigen Dinge, die sie aus dem alten Kloster hatte retten und mitnehmen können. Doch es war gesprungen und von einem tiefen Riss durchzogen, den ein Handwerker notdürftig und hässlich gekittet hatte.
Das Becken ist wie ich: nur noch ein Schatten dessen, was es einmal war, dachte sie wütend.
Mit einer unwirschen Geste schüttete sie sich einen Schwall Wasser ins Gesicht, und ein heftiger Schmerz durchfuhr sie, denn ihre Gesichtshaut war nach den Verbrennungen, die sie im Feuer erlitten hatte, äußerst empfindlich.
»Geh darüber hinweg«, hatte eine Mitschwester zu ihr gesagt, »denk nur daran, dass du noch lebst. Andere hatten weniger Glück als du.«
Das war leichter gesagt als getan. Keinen Augenblick ließen die Schmerzen sie in Ruhe, so als schwele im Fleisch, unter dem hässlichen, glänzend glatten Schleier der Narben, immer noch ein Feuer, das sich nicht löschen ließ. Sie brauchte es nur mit den Fingerspitzen zu berühren, und die Qualen jener Nacht kehrten zurück.
Heftige Schmerzensschauer schüttelten sie, während ihr das Wasser über die verunstaltete Wange rann. Die eine Hälfte ihres Gesichtes war immer noch schön und zeigte die stolzen, fein ausgeprägten Züge eines Mädchens in der Blüte ihrer Jahre. Doch die andere Hälfte war entstellt. Was ihr Gesicht so hässlich machte, schienen noch nicht einmal die Narben zu sein. Es war vielmehr, als hätten die Flammen ihr Fleisch eingeschmolzen, das nun an den Wangenknochen wie Wachs an einer Kerze hing. Umgeben von der erschlafften Haut, klaffte ein rundes aufgerissenes Auge, ein Auge, das Grele seit jener Nacht nicht mehr schließen konnte.
Lange hatte sie nicht den Mut gefunden, sich im Spiegel anzuschauen. Doch seit sie sich zum ersten Mal dazu durchgerungen hatte, betrachtete sie sich nun jeden Morgen sehr lange. Der Abscheu, den ihr dieser groteske Anblick einflößte, war ein willkommener Stachel für ihren Hass und erinnerte sie daran, dass sie niemals Frieden finden würde, bevor nicht dieses Mädchen vernichtet war, das sie so zugerichtet hatte.
Aus diesem Grund hatte sie, in Erwartung, ihr Noviziat zu beenden und Priesterin zu
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