Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)
ebenso abwechselnd, „armer Dr. Habicht“, sagte ich, „pah“, machte Borsig und Marxer, die Gesichtshaut impressiv gefaltet, sagte gar nichts. Was ein untrügliches Zeichen dafür war, dass er gleich zu einer Belehrung ansetzen würde, und so kam es auch.
„Die Situation ist verfahren“, begann er und, auf mich gemünzt, „ein Kriminalfall ist im Grunde nichts weiter als ein Kriminalroman. Planung ist alles, konzentriertes Vorgehen, die wichtigen Punkte zuerst und dann all das unwichtige Zeugs, das man nur für die Galerie braucht. Und ich frage mich deshalb, wieso wurde diese Lydia Gebhardt nicht genauer unter die Lupe genommen? Die Osterhasen sind praktisch auf ihrem Mist gewachsen, sie ist der Schlüssel zu allem. Moritz?“
Ich wurde verlegen wie ein kleiner Schuljunge, Hermine sah mich vorwurfsvoll an, Borsig grinste und Oxana entzog mir den Blick ins Dekolleté. „Es kommt immer was dazwischen“, jammerte ich, „diese verfluchten Großmuschelbacher und jetzt der Mord an Dr. Habicht. Bin mal gespannt, wann die Polizei vor der Tür steht.“
Marxer brummte in sich hinein. „Tja“, sagte er, „mysteriös, mysteriös. Dumm für den Doktor, dass es ihn erwischt hat. Pech.“ „Pech?“ echote ich. Marxer setzte seine allwissendes Lächeln auf, für das ich ihn sofort noch mehr hasste, und sagte: „Ja, Pech. Denn, mit Verlaub, eine Sache ist doch klar wie ein Krimi von Agatha Christie: Dr. Habicht wurde irrtümlich erschossen. Der Anschlag galt“ – er blinzelte zu Sonja Weber hin – „der anderen Person im Wagen.“
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Marxer war in seinem Element. Dieser billige Schmierenautor zog einen miesen Trick nach dem anderen aus seiner Werkzeugkiste, dozierte in ehrfürchtige Gesichter, nur um seine blödsinnige These zu untermauern, der Mordanschlag habe nicht Habicht, sondern Sonja Weber gegolten. Ganz im Vertrauen: Er hatte natürlich recht. Aber wer bin ich, mir vor versammelter Mannschaft ein Armutszeugnis auszustellen? Also hielt ich dagegen. Und erlitt grandios Schiffbruch.
„Na, das sollte einleuchten“, warf Marxer seinen besten Trumpf auf den Tisch, „wenn ich den Fahrer eines Wagens erschießen möchte, halte ich mich auf der linken Spur und der Beifahrer übernimmt den Job. Warum haben das die Täter nicht gemacht? Warum rechts? Weil sie Sonja erwischen wollten.“ Die Runde, mich ausgenommen, nickte überzeugt, ich wartete darauf, dass jemand einen Weihrauchschwenker organisieren würde, um diesem Gott der gnadenlosen deduktiven Logik damit zu huldigen.
Von Minute zu Minute verdüsterte sich meine Stimmung mehr, es war nicht mehr weit bis zur absoluten Schwärze, wenn das Gehirn nur noch auf Rache sinnt. Marxer kam immer heftiger auf Touren, drei Augenpaare hingen an seinen Lippen, nur Sonja Weber torkelte durch ihre eigene Zeitlupenwelt. „Das alles“, räsonierte der eitle Schreiberling nun, „hört sich nach einem handelsüblichen Whodunit eines mäßig begabten Autors an.“ – Womit er natürlich nicht sich selbst meinte, obwohl Oxana – und ich liebte sie dafür – sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte. „Mit Elementen des gemeinen Thrillers, des schrecklichen deutschen Soziokrimis der 70er Jahre, ein wenig Schmuddelsex und einer misslungenen Referenz an die Agentenromane von Eric Ambler bis John le Carré gewürzt. Das macht über den Daumen einen etwa 250 Seiten dicken Roman, und wir befinden uns, ich schätze mal, aktuell auf Seite 164. Der Protagonist“ – Marxer sah mich mitleidig an – „weiß nicht mehr ein noch aus, gottlob durchlebt er nicht die aus dem Schwedenkrimi bekannten persönlichen Krisen, zweifelt nicht an der Sozialdemokratie oder wird von einer Angst vor plötzlicher Impotenz befallen. Na ja, jedenfalls nicht mehr als es bei Männern seines Alters üblich ist.“ Oxana kicherte, Hermine zog indigniert die Augenbrauen hoch, Borsig gab seinen mittelscharfen Senf – „Hört, hört!“ – dazu, ich stand kurz vorm Implodieren und krächzte mit einem kümmerlichen Rest scheiternder Ironie: „Hört sich so an, als könntest du den Fall lösen, ohne deinen Arsch vom Schreibtisch weg zu bewegen. Ganz wie bei Poe oder Rex Stouts Nero Wolfe.“
Gespannte Stille. „Hm“, machte Marxer, „könnte durchaus sein. Der Theoretiker braucht die Praxis nicht unbedingt, um einen Kriminalfall zu lösen. Wenngleich es natürlich nichts schadet, wenn man – wie etwa Dashiell Hammett oder mein geschätzter Kollege Norbert Horst – die
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