Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)
misstrauisch), „wir Kriminalschriftsteller leben vom Zufall. Alles im Leben ist Zufall. Denk nur an die Weiber. Du lernst eine kennen und warum lernst du sie kennen? Weil sie dir zufällig über den Weg läuft, zufällig in derselben Firma arbeitet oder du irrst dich zufällig in der Hoteltür und sie liegt im Bett und dann passierts und das alles nur, weil du besoffen bist, weil du zufällig einen alten Schulfreund getroffen hast, der zufällig in den falschen Zug gestiegen ist. Du verliebst dich. Schicksal? Ach was! Zufall!“
Borsig nickte eifrig. „Aber“, wandte er ein, „das Joch der Herrschaft des Kapitals ist davon ausgenommen. Es ist weder Schicksal noch Zufall, sondern Willkür und wird eines schönen Tages durch die Wut der Massen hinweggefegt werden. Das mit den Weibern ist aber korrekt, kann ich nur bestätigen.“
„Du hast interessante Freunde“, sagte Marxer zu mir und zu Borsig: „Sie sind Politologe?“ „Gewissermaßen“, sagte Borsig, „aber ich nehm Tabletten dagegen.“ „Brav“, lobte der Dichter, „solange es die Kasse bezahlt.“
Es entspann sich nun zwischen Marxer und Borsig ein hitziger Dialog über das Weltelend im Allgemeinen und den Kommunismus im Besonderen. Ich erwartete jeden Augenblick das Erscheinen von Gesine Lötzsch, der Vorsitzenden der Linkspartei, damit sie den Anwesenden Wesen, Werk und Wirkung des wahren Kommunismus erläutere, selbstverständlich unter Einbeziehung der Verbrechen des Stalinismus und des Maoismus, der SED und KPdSU, der Sandinisten und der Castro-Clique, mit einem Wort: Ich erwartete das Schlimmste. Unterdessen waren die Brote vertilgt, der Kaffee ausgetrunken, ich erhob mich seufzend und machte mich daran, für Nachschub zu sorgen, die Damen konnten nicht mehr lange ausbleiben und eines weiß ich bestimmt: Es ist kein Zufall, dass immer ich am Ende für alles den Kopf hinhalten muss, nein, das ist mein Schicksal und ich hasse es. Kaum hatte ich so gedacht, kamen die Damen aus dem Bad und Oxana sagte, an mich gerichtet: „Sag bloß, du machst jetzt erst zweites Frühstück. Schäm dich, fauler Bengel.“
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Selbst Kriminalautoren können galant sein. Marxer war, als das weibliche Trio den Raum betrat, aufgesprungen, hatte Hermine mit Kennerblick abgeschätzt und Sonja Weber an der Hand genommen, um sie zum Tisch zu geleiten. Schwester Oxanas Arbeit verdiente Anerkennung. Sonja Weber wirkte gefasst, jedenfalls so gefasst, wie man nach einem gehörigen Quantum Beruhigungsmittel nur sein konnte. Sie steckte in einem von Oxanas Hausanzügen, halbtransparente Rohseide in Regenbogenpastell, das Gesicht wirkte makellos, die wenigen Glassplitter waren mit einer Pinzette entfernt worden, die Haut nach vorsichtiger Desinfizierung dezent abgeschminkt.
„Sonja bleibt die nächsten Tage hier, ich werde das Gästezimmer herrichten“, entschied Oxana und Marxer nickte. „Find ich auch gut, Oxana“, sagte Hermine, und hätte ich es nicht längst geahnt, es wäre mir klar gewesen, dass sich hier eine weibliche Seilschaft gebildet hatte, eine geschlechtsspezifische Schicksalsgemeinschaft, wie sie nur in Badezimmern vor dem Spiegel entstehen kann oder auf den Toiletten in Staatstheatern, Nachtclubs oder dörflichen Mehrzweckhallen. Wenn Frauen sich entschließen zusammenzuhalten, wird der Mann an sich zur lästigen Randerscheinung, zur Sättigungsbeilage bei der großen kommunikativen Mahlzeit, aber ist in Ordnung, finde ich. Dafür verdienen wir halt mehr und würfeln die Aufsichtsratsposten unter uns aus.
Weder Borsig noch ich waren für den Smalltalk geschaffen. Wir kauten Brote und überließen die Konversation Marxer, der auch gleich mit Hermine fraternisierte und schwor, künftig nur noch bei Aldi einzukaufen, „dann klingelt nicht nur die Kasse, wenn Sie dahinter sitzen, schöne Frau.“ Hermine errötete, was mir nicht sehr gefiel. Aber eine amerikanische Untersuchung hat festgestellt, dass so ziemlich jede Frau von heißen Nächten mit Kriminalautoren träumt, und solange sie nur davon träumte, sollte es mir egal sein. Als Präventivmaßnahme trat ich Marxer dennoch kurz ans Bein und schickte ihm einen Killerblick, den er mit einem Lächeln zurückwarf.
Sonja Weber saß da wie eine Statue. Statuen essen nicht, sie trinken keinen Kaffee, sie starren vor sich hin, sie hören nicht, sie reden nicht. Hermine und Oxana tätschelten ihr abwechselnd Wangen und Rücken, allein, sie reagierte nicht. „Arme Sonja“, seufzten die beiden
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