Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)
Auf der Empore rumpelte es und tatsächlich hieben unmusikalische Bestienfinger angeekelt Bach in die Orgel, bis alle Register vor Schmerzen schrien. Das war der passende Soundtrack, fand ich, schräge Kirmesmusik am Ende einer verunglückten Geschichte. Ich wusste, dass mich das Schicksal Georg Webers nichts mehr anging, meine Klientin hatte mir gekündigt, ohne eine Wort, aber jedes Wort wäre eines zuviel gewesen. Ein wenig Geld war in die Kasse gekommen, schön so, und weil es so schön war, saßen wir jetzt nebeneinander, Hermine und ich, und fühlten uns schlecht.
Mir kamen all die ungestellten Fragen in den Sinn. Was wäre mit Borsig und mir passiert, hätten wir uns nicht selbst befreit? Wie akquirierte man die Kunden für die feingeistig groben Spektakel, Mundpropaganda oder schaltete man Anzeigen in einschlägigen Zeitschriften wie „Der geistvolle Kinderfreund“ oder „Literatur zum Anfassen“? Welche Veranstaltungen außer diesen posthumen Verunglimpfungen von Charles Dickens führte man noch im Programm? Aber ganz ehrlich: Ich war nicht mehr auf Antworten erpicht. Wir erhoben uns und drückten uns aus der Kirchenbank, das alte Mütterchen schnaufte im Off und Hermine fragte leise: „Wo sind wir da reingeraten, Moritz? Das ist doch kriminell!“
„Ach, meine Liebe, wahrscheinlich noch nicht einmal das. Höchstens ein Verstoß gegen das Jugendarbeitsschutzgesetz, eine läppische Ordnungswidrigkeit. Und auch das nicht einmal, wenn die Herrschaften einen guten Anwalt haben – ich nehme an, sie haben ganze Legionen davon -, der dem Gericht nachweist, es handele sich um eine kulturelle Veranstaltung zur Brauchtumspflege, dann gibt es sogar Steuererleichterungen. Ach ja, Ärger mit dem Finanzamt, die versteuern ja wohl nicht. Da hilft eine Selbstanzeige. Übrig bleibt nur schlechte Presse. Aber wen juckt die schon, die massiert man sich heutzutage mit etwas Pomade aus der Kopfhaut.“
„Trotzdem“, beharrte Hermine, „wie man nur in so etwas hineingeraten kann.“ „Du bist immer drin“, sagte ich, „wenn du dein Geld auf die Bank bringst und die Bank gibt es einer bolivianischen Erzmine als Kredit und die lässt Kinder schuften, die dann mit 18 aussehen wie ihre eigenen Großväter, wenn die nicht mit 25 verreckt wären. Also. Keine Chance.“ Hermine seufzte.
Es war schön draußen. Kalt, blauer Himmel, Borsig, an seiner Kippe ziehend, am Rande des Vorplatzes, „und?“, wir antworteten nicht und der kleine Mann mit der lustigen Mütze machte „hm“ und fragte nicht weiter, wir trotteten Richtung Innenstadt. Viel Verkehr, Feiertagsausflügler. Der Transporter stand in einer langen Schlange, die nur gelegentlich im Schritttempo vorwärts kam. Hinter der Ampel wurde es flüssiger, jetzt sprang sie auf Gelb. Der Transporter ruckte an, mittlere Fahrspur, rechts ein dunkelroter Mercedes, gleiche Höhe. Ein Geräusch wie von einer Fehlzündung? So ungefähr. Grün. Der Mercedes preschte schnell nach rechts um die Kurve, verschwand. Der Transporter bewegte sich nicht. Die ersten Idioten dahinter patschten auf die Hupe. Wir gingen auf dem Bürgersteig, kamen näher. Die Beifahrertür des Transporters wurde aufgestoßen und Sonja Weber taumelte uns blutüberlaufen entgegen.
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Sie hätte heute Morgen nicht den hellbeigen Wollmantel anziehen sollen, sicher hing auch etwas in gedeckteren Farben in ihrem Kleiderschrank. Jetzt ließen sich die Blutspritzer leider nicht übersehen, nur die Hirnmasse wäre auf Schwarz noch dekorativer zur Geltung gekommen.
Ich sah an Sonja Weber vorbei, und es war wirklich nicht mehr als ein Augenblick. Dr. Habichts Kopf war auf das Lenkrad gesunken, aparte Schusswunde in der rechten Schläfe, kleinkalibrige Waffe für die Ästheten unter den Profikillern, schloss ich mit berufsmäßiger Schärfe, obwohl ich von Waffen, Profikillern und Ästhetik keinen Schimmer habe. Das Glas in der Beifahrertür von mäandernden Rissen durchzogen, der Rhein bei Rotterdam oder so, das Einschussloch. „Ich blute“, sagte Sonja Weber eher überrascht als schockiert.
Hermine reagierte schnell. Hier zeigte sich die Überlegenheit der Frau in Krisensituationen, sie zog Sonja Weber mit sich fort, Borsig und ich stolperten hinterher, weg von der Straße, in eine kleine Gasse. „Mantel aus“, befahl Hermine und half der lethargischen Sonja aus dem besudelten Stück, rollte es zusammen, drückte es Borsig in die unwilligen Arme. „Taschentuch.“ So sprechen Chirurgen bei einer
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