Die eingeborene Tochter
1. Kapitel
Am ersten Septembertag des Jahres 1974 wurde dem Murray Jacob Katz ein Kind geboren, einem jüdischen Einsiedler, der über der Bucht von Atlantic City, New Jersey, lebte. Die Stadt war damals berühmt für ihre Hotels, die Strandpromenade, den Miss America-Umzug und die wichtige Rolle, die sie bei der Einführung von Monopoly gespielt hatte.
Murray hatte den aufgegebenen Leuchtturm auf Brigantine Point übernommen, betrachtete ihn als sein Eigentum, etwa so, wie ein Eremit eine Höhle beanspruchen würde. Man nannte den Leuchtturm Angel’s Eye. Er war völlig veraltet, was Murray recht war; als sexuell inaktiver Eremit in der hocherotisierten Kultur Amerikas im späten 20. Jahrhundert kam er sich selbst etwas unzeitgemäß vor. In den Blütezeiten hatte die kerosingespeiste Lampe von Angel’s Eye mehr als zehntausend Schiffe sicher an den Brigantine-Untiefen vorbeigeleitet. Nun wurde der Leuchtturm nur noch eingeschaltet, wenn Murray danach war. Die Verhütung von Schiffskatastrophen oblag dem neuen elektrischen Leuchtfeuer der Küstenwache der Vereinigten Staaten auf Absecon Island.
Murray wußte alles über Angel’s Eye, rühmliche und unrühmliche Dinge. Er wußte von der stürmischen Julinacht 1866, als das Kerosin auslief, so daß die britische Brigg William Rose mit einer Ladung Tee und Feuerwerkskörpern aus China an den Felsen zerschmetterte. Oder jener neblige Märzmorgen 1897, als sich der Hauptdocht auflöste – mit entsetzlichen Folgen für Lucy II, eine Luxusjacht im Besitz des Kugellager-Magnaten Alexander Strickland aus Philadelphia. An den Jahrestagen dieser Katastrophen hielt Murray immer eine Gedenkfeier ab. Er stieg über die Treppe zum Turm hinauf, und genau im Augenblick, als William Rose oder Lucy II ins Blickfeld von Angel’s Eye gekommen waren, zündete er die Lampe an. Er glaubte fest an eine zweite Chance. Wenn ihn einer gefragt hätte: »Wozu noch das Stalltor zumachen, wenn das Pferd schon gestohlen ist?«, hätte er geantwortet: »Hauptsache, das Tor ist jetzt zu.«
Zur Zeit, als sein Kind empfangen wurde, drehte sich Murrays Sexleben ausschließlich um eine bestimmte Verbindung von Samenbank und Forschungscenter, das sogenannte ›Preservations-Institut‹. Die Wissenschaftler dort machten eine Langzeitstudie: wie ändern sich die Keimzellen eines Mannes, wenn er älter wird? Murray war pleite und unterschrieb ohne Zögern. Jeden Monat fuhr er zu der berühmten Stiftung, die in drei Geschossen eines verwitterten Backsteinbaus oberhalb Great Egg Bay untergebracht war, wo ihm die Empfangsdame Mrs. Knebel ein sterilisiertes Heringsglas aushändigte und ihn in einen Raum hinaufgeleitete, der mit Postern aus dem Playboy und jenen pornographischen Briefen ausgestattet war, die vom Redaktionsstab des Penthouse verfaßt und an die eigene Redaktion geschickt werden.
Das Preservations-Institut beschränkte sich nicht darauf, den Samen gewöhnlicher Sterblicher zu ernten und zu untersuchen, es fror auch den von Nobelpreisträgern ein, wodurch deren vererbbare Charakteristika für Hausversuche in Eugenik verfügbar wurden. Zu jener Zeit hatten schon Tausende Frauen auf dieses Produkt gewartet. Nobel-Samen war billig, zuverlässig und einfach in der Anwendung. Sie erwerben einen Bratenbegießer, injizieren sich die kostbare Flüssigkeit – sozusagen die crème de la crème –, und neun Monate später kommt ein Genie heraus! Die Laureaten hatten von ihren Spenden nur die Genugtuung, den menschlichen Gen-Pool verbessert zu haben. Murray Katz – Handelsangestellter, unfreiwillig zölibatär, aus dem Newark Community College rausgeflogen – bekam dreißig Dollar für jeden Schuß ins Glas.
Und dann eines Nachmittags die Nachricht – ein Telegramm. Wie die meisten Einsiedler hatte Murray kein Telefon.
IHRE LETZTE PROBE KONTAMINIERT. STOP. SOFORT KOMMEN. STOP.
Kontaminiert. Dieses Wort, offensichtlicher Euphemismus für ›krankhaft‹, machte einen Sumpf kalter Furcht aus seinen Eingeweiden. Krebs, kein Zweifel. Sein Samen war mit bösartigen Zellen durchsetzt. STOP: Jawohl. STOP: Du bist tot. Er klemmte sich hinter das Steuer seines klapprigen Saab und fuhr über die Brigantine Bridge nach Atlantic City.
Im Alter von zehn Jahren hatte Murray Jacob Katz damit begonnen, über die Frage nachzudenken, ob es ihm gestattet war, wie seine verschiedenen christlichen Freunde an den Himmel zu glauben. Juden glaubten so viele beeindruckende und dramatische Dinge; da schien es
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