Die eingeborene Tochter
weiter wandert eine schlanke Frau im gelben Parka munter in Richtung Amerika, und du weißt sofort, das ist sie wirklich, sie, und du schreist auf.
»Phoebe! Phoebe Sparks!«
Sie dreht sich um. »Ja?«
»Phoebe! Phoebe!«
»Katz? Katz!«
»Phoebe!«
»Julie Katz?« Sie kann es nicht glauben. »Julie Katz! Julie Katz!«
Sie schießt auf dich zu wie ein Hund, den man aus dem Zwinger gelassen hat, und ihr verschmelzt miteinander; vereinigt Knochen, Haut und Blut zu einem gemeinsamen Körper, durch den euer Blut pulsiert.
»O Katz, Katz, gottverdammte Julie Katz, wie, zum Teufel, hast du das bloß gemacht?«
»Was gemacht?«
»Du bist doch zurückgekommen!« Phoebe lächelt wie ein Engel auf Kokain.
»Ich bin zurückgekommen. Lassen wir’s dabei bewenden.«
»Was?«
»Es gibt dafür mehrere Erklärungen.«
Phoebe mustert deine durchlöcherten Arme, aufgespeilerten Füße, den verwüsteten Kopf. »O Gott, Schatz, was haben sie bloß aus dir gemacht!« Sie fletscht ihr prächtiges Montgomery Clift-Gebiß. »Hör zu! Gute Neuigkeiten. Erstens: Ich hab Andrew Wyvern getroffen. Er ist in noch mieserer Verfassung als du. Zweitens: Ich hab Milk nicht umgebracht, aber tot ist er trotzdem. Deine Mutter hat ihn mit einem Blitz erschlagen.«
»Mit einem Blitz?«
»Göttliche Gerechtigkeit!«
»Weltliche Koinzidenz.«
»Nein, Kumpel.« Phoebe legt trotzig die Hände auf ihre Lippen. »Gott.«
»Gott ist ein Schwamm.«
»Ein was?«
»Ein Schwamm.«
»Wovon redest du überhaupt?«
»Die Daten sind eindeutig.«
»Ein Schwamm?«
»Gehen wir heim, Phoebe. Mit dem Baby spielen.«
Am ersten Septembertag des Jahres 1974 wurde dem Murray Jacob Katz ein Kind geboren, einem jüdischen Einsiedler, der über der Bucht von Atlantic City, New Jersey, lebte. Die Stadt war damals berühmt für ihre Hotels, die Strandpromenade, den Miss America-Umzug und die wichtige Rolle, die sie bei der Einführung von Monopoly gespielt hatte. Vierzig Jahre später verließ die Frau, zu der jenes Kind herangewachsen war, New Jersey für immer.
Julie betrachtete die Benjamin Franklin Bridge, ließ ihren Blick über die Nieten auf den Stahlträgern schweifen, dann über die verflochtenen Drahtseile, die wie Saiten einer Harfe gespannt waren, die nur ein Engel spielen konnte, über die stetig auf- und abschwingenden Hauptkabel, über Himmel und Sonne. Wo war nun Gott – dort oben, wo sie vielleicht ihr Blitzarsenal polierte, oder in der Absecon-Bucht, wo sie Wasser durch die Hautöffnungen saugte, Nährstoffe für Gewebe und Skelettstacheln herausfilterte?
Sie konzentrierte sich auf das, was vor ihr lag. WILLKOMMEN IM FLEISCH hieß die klare Botschaft. UNSICHERHEITSZONE DIREKT VORAUS. Ja, für weitere dreißig oder vierzig Jahre gehörte ihr nun alles wieder, die vernarbte Stirn, der verwüstete Schoß, der verstümmelte rechte Arm – grad, wie sie wollte.
Und dies war erst der Anfang, dachte Julie, denn in diesem visionären Augenblick endete die Vine Street nicht in der Stadt der Brüderlichen Liebe, sondern setzte sich fort, floß wie ein Fluß, immer nach Westen. Noch heute würde sie mit Phoebe aus Camden rauskommen, nächsten Monat würden sie Philadelphia verlassen – sie alle: Phoebe, Bix, Irene, Klein-Murray und sie selbst –, und dann Pennsylvania, dann Ohio. Meile um Meile gegen die Drehung des Planeten, die Sonne immer im Rücken, wenn sie durch Chicago, St. Louis, Denver, Phoenix, Los Angeles kamen – vielleicht sogar bis zu jener Südseeinsel, die sie einst im alten ›Deauville‹ entdeckt hatten.
Ihre beste Freundin liebte sie. Ihr Mann liebte sie. Sie hatte Kräfte. Sie konnte die Nackten kleiden, die Hungernden nähren, die Durstigen tränken, die Frierenden wärmen. Dann gab es noch diese Sehnsucht nach einem Kind. Würde ihr Klein-Murray genügen, oder würde sie mit Bix noch eins adoptieren? Und dann: Sie wünschte sich Arbeit. Julie, die High School-Physiklehrerin, Julie, die Ratgeber-Kolumnistin. Oder sie würde vielleicht ihren Doktor machen: Dr. Katz, die kämpferische Theologieprofessorin.
Vierzig: Noch nicht zu spät, um aufgeschobene, aber vielversprechende Leben endlich zu beginnen.
Julie Katz legte den Arm um ihre beste Freundin, die ihr von der Seite zublinzelte und sie rasch auf die Wange küßte. Gemeinsam überquerten sie die warzige, alte Brücke und betraten die Welt.
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