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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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kleinen Murray die Babynahrung zu lange gab, würde er nicht mehr zur Brust zurück wollen.
    Die vergangene Nacht schien schon hundert Jahre her zu sein. War das wirklich alles passiert? Aber dann ging sie los, und da lag er schon ausgestreckt im scharfen Morgenlicht, der Körper eine einzige Wunde, ausgebrannt die beiden Hälften. Ihr wurde übel, weniger wegen Milks Zustand, sondern weil sie in seiner Nähe war. Wenn sie sie erwischten, würden sie ihr die Schuld geben. Phoebe Sparks, Gottes Sündenbock.
    Und so begann sie ihre heimliche Reise, schlich von Farm zu Farm, von Laden zu Laden wie ein plünderndes Tier, lebte von geklauten Früchten, Candy-Riegeln und der Milch ihrer eigenen fruchtbaren Brüste. In einem Laden ließ sie einen Rucksack mitgehen, um ihre Beute besser transportieren zu können. Sie schlief in Maisfeldern, aß in den Kirchen der Apokalyptiker. In Tankstellen ging sie pinkeln. Donnerstag abend gab es ein neues Unwetter, das tausend neue Bäche und Tümpel in die Erde kerbte. Sie schnappte sich einen vergessenen Regenschirm bei einem Bus-Depot und schaute sich nach einem Unterschlupf um. Das Naheliegende – Restaurant, Waschsalon – kam heute nicht in Frage, denn jedesmal verlor sie den Mut: einmal war es ein Panzerwagen, dann wieder ein herumschlendernder Soldat, ein Inquisitionshubschrauber, oder der mißtrauische Blick eines Fremden. Nur die Smith & Wesson gab ihr Kraft. Sie mußte sie nur berühren – und fühlte sich gestärkt und erfrischt. Jedes Mädchen sollte einen Revolver besitzen.
    Eine Meile außerhalb von Cherry Hill kam sie zu einer schäbigen, heruntergekommenen Farm. Ein rostiger John Deere-Traktor und zwei abgewrackte Dreschmaschinen standen inmitten eines Wäldchens spindeldürrer Apfelbäume. Eine verbeulte Windmühle drehte sich holprig im Sturm wie der aufgewickelte Verteilerrotor eines Telefons. Phoebe schlüpfte in die Scheune, zog den Parka aus und ließ sich ins Heu sinken. Nach den zwei Dutzend Verschlagen zu schließen, hatte der Farmer hier früher Pferde und Milchkühe gehalten, aber nun gehörte die Scheune ganz den Hühnern und Hähnen; duftendes, unruhiges Königreich. Über dem Sturmgeheul lag das Geglucke der Hühner wie tierischer Morsecode.
    Phoebes geklauter Rucksack enthielt ein Festmahl. Schnell leerte sie ihn aus und richtete an: mitgebrachte Oscar Mayer-Hot Dogs, ein Apfel von der Größe eines Krocketballs und ein Erdnußbutterglas, in das sie eine gute Pinte ihrer eigenen Milch ausgepreßt hatte. Sie verspeiste drei Würstchen, spülte sie mit Milch runter; Sodbrennen. Gesättigt streckte sie sich in der kühlen, hühnerdreckweichen Dunkelheit aus. Morgen nachmittag würde sie endlich wieder in Amerika sein, Irene küssen, eine Gedenkfeier für Katz arrangieren, sich um Murray kümmern. Gott, wie sie dieses Kind doch vermißte.
    Der Schlaf kam wie eine warme Brandung über sie.
    Sie mußte pinkeln und wachte davon auf. Im letzten Monat ihrer Schwangerschaft hatte sie jede Nacht dreimal aufs Klo gehen müssen, die Konditionierung hielt immer noch an. Sie schaute auf die Uhr. Zwei Uhr früh. Volle Blase, volle Titten, richtig aufgeschwemmt war sie.
    »Hallo, Kind.«
    Phoebe zückte den Revolver.
    »Wie ich sehe, hast du endlich Titten gekriegt.« Eine männliche Stimme, dünn und zerfahren.
    Zwanzig Fuß weit weg ging ein Streichholz an. Eine winzige Flamme taumelte wie ein betrunkener Leuchtkäfer durch die Dunkelheit; brennende Zigarette.
    »Ich bin bewaffnet«, verkündete Phoebe.
    »Außer uns Hühnchen ist keiner da«, antwortete der Mann. Er hustete und lachte. Fäulnisgeruch lag in der Luft, verfaulte Orangen in ranzigem Honig. »Du erinnerst dich doch an mich? Vor Jahren trafen wir uns am Steel-Pier. Wir sind zusammen Karussell gefahren. Genau das, auf dem sie Katz angenagelt haben.« Licht erfüllte die Scheune, als Andrew Wyvern eine Petroleumlampe anzündete, eine Art Miniatur des Angel’s Eye-Leuchtturms an einem Nagel. Sein gelblich zusammengefallenes Gesicht erinnerte an eine Kürbiskopflaterne, die man bis Weihnachten aufbewahrt hatte. Er saß inmitten nistender Hühner an einen Verschlag gelehnt, eine brennende Pall Mall-Filter zwischen den Lippen.
    »Du bist älter geworden«, sagte Phoebe.
    »Genau wie du. Willst du einen Witz hören?« Ein schlafendes Schweinchen – rund, rosa und borstig, ein Bäuchlein mit Beinen – kam durch die Scheune gestolpert und kletterte auf seinen Schoß. »Billy Milk wollte deine Freundin gehen

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