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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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sogar, als ihre Doppelgängerin an den Türmen und Kirchen New Jerusalems vorbeiglitt, über den brüllenden Atlantik, Wolken beiseitestoßend, Möwen erschreckend, fühlte sie immer noch deren Grenzen, die lauernde Unzufriedenheit. Zeit umzukehren, zurück auf den traurigen Planeten, zu den Nägeln, zum Karussell, zur Asphyxie durch Erschöpfung, und so fiel sie, gab ihre Schwingen auf, vereinte sich mit ihrem singenden Selbst, noch nicht tot, o nein, Mutter, noch nicht tot, noch nicht…
     
    On the Boardwalk in Atlantic City
    we will walk
    in a
    dream
    on the
    Boardwalk in
    Atlantic
    City
    life
    will
    be
    peaches
    and…

 
18. Kapitel
     
    Der Videoschirm thronte auf Stahlstelzen hoch über der östlichen Stadtmauer und zeigte so obszöne Nahaufnahmen, daß sich Bix kaum zum Hinschauen überwinden konnte. Julies linkes Handgelenk: Ein ölig grauer Nagel durchbohrte ihr Fleisch. Die Füße: die Zehen bereits in Totenstarre verkrampft. Das Gesicht: glänzend und starr wie kristallisierter Schwefel. Der durchschnittliche Psychotiker, Visionär oder Midnight Moon- Leser hatte wohl zweifellos den genauen Zeitpunkt ihres Todes registriert – als eine Art Explosion im Kopf oder plötzliches Herzversagen. Bix dagegen hatte nichts gemerkt. Er wußte nur, daß in irgendeinem nebulösen Augenblick zwischen Mittag und jetzt der Zirkus das Werk vollbracht, seine Frau aus dem Dasein genommen hatte – die Frau, die für ihn einmal Gott gewesen war und für immer seine Freundin bleiben würde. Da standen nun die beiden Menschen, die Julie am meisten geliebt hatten, zusammengedrängt im Schatten des Tropicana-Tors, betrachteten die bleichen, perlmuttfarbigen Gesichter der Basrelief-Engel und warteten auf den Leichnam.
    Bildschirm und Himmel wurden gleichzeitig dunkel, das graue Wolkengewirr glich Kohlezeichnungen von Schizophrenen. Der Sturm brach los; eine Billion Regentropfen klatschten auf den vergoldeten Damm. Phoebe spannte den Regenschirm auf, ein Restposten aus dem alten Smile Shop mit der Aufschrift: GOTT PISST DICH AN! Sie hielt ihm den Schirm hin, bot ihm Schutz. Bix drückte sich flach ans Portal. Die konventionelle Gefühlsduselei verlangte eigentlich, daß ein so schwerer Verlust die Menschen einander näherbrachte, alte Feindschaften auslöschte, aber das letzte, was er wollte, waren plumpe Intimitäten dieser Art, schon gar nicht mit Phoebe.
    Das Tor öffnete sich mit tiefem krächzenden Knarren – zwei Jaks, die es miteinander trieben und nun versuchten, ihre Umschlingung zu lösen. Ein Polizeisergeant marschierte durch die Lücke, Regenwasser perlte von der Spiegelbrille. Hinter ihm zwei junge Urpastoren in wasserdichten Soutanen, wie eine Hängematte baumelte ein röhrenförmiger Sack zwischen ihnen.
    »Mr. Constantine?«
    Bix nickte. Der weiße, schwammige Sack erinnerte an die Larve eines Rieseninsekts. Regenwasser sammelte sich in den Ausbuchtungen des Stoffs, floß durch die Falten ab. Er führte die Urpastoren zu seinem grünen Tureen, sie legten den flexiblen Sarg in den Mittelgang der Kitchenette. Sein Blick schweifte zur Stadt. Auf Hochglanz polierte Wälle, Türme wie riesige Eiszapfen, die schimmernden, gewundenen Gleise der Einschienenbahn. Am offenen Tropicana-Tor ein komischer Regenschirm.
    »Danke«, sagte er zu den Urpastoren. Regenschirm, überlegte Bix. Offenes Tor. Dann setzte er sich ans Steuer. »Mach es, Phoebe«, murmelte er, »erschieß Milk und die ganze Mannschaft. Meinen Segen hast du.«
    Er fuhr in den heulenden Sturm quer über die Höhe der Stadt und über die Brigantine Bridge; sein Kummer im Gleichklang mit dem Schlagen der Scheibenwischer. Blitze zuckten über den Himmel, vergoldeten die Raffinerien, überzogen die Apartmenthäuser mit elektrischer Blässe. Er bog in den regenglänzenden, pfützenfleckigen Harbor Beach Boulevard ein, bog dann scharf ab und fuhr zum Rum Point hinunter, soweit es ging, und bremste. Er schaltete den Motor und die Scheibenwischer aus. Der Regen prasselte wie ein Murmelgewitter auf die Windschutzscheibe. GOTT PISST DICH AN! stand auf Phoebes Schirm, aber jetzt schien sich Julies Mutter überhaupt aller Körperflüssigkeiten zu entledigen; Urin, Blut, Lymphe, Schweiß, Fruchtwasser.
    Als er die Heckklappe des Tureen aufmachte, spürte er, wie die Trauer allmählich einem eher unerwarteten Gefühl wich: dumpfem, unleugbarem Zorn. Die Idiotin – warum hatte sie bloß auf die Art ihre Kräfte aufgegeben? Wußte sie nicht, daß die Nägel im Reich der

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