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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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zwischen Saum und Bauch eine Lücke auftat. Der Zeigefinger passte noch nicht hinein, der kleine Finger aber sehr wohl, und innerlich jubelte sie.
    Da muss sie hin, dachte sie, genau dort muss sie sprießen.
    Ein kleine blaue Rose, wie Viola sie hatte.
    Alice drehte sich und wandte dem Spiegel ihr Profil zu, die rechte, bessere Seite, wie sie glaubte. Sie schüttelte ihr Haar nach vorn und dachte, dass sie nun wie ein Mädchen aussah, das vom Teufel besessen war. Dann versuchte sie, die Haare zu einem Pferdeschwanz zu raffen, und hielt sie schließlich, immer noch umfasst, ein Stück höher, so wie Viola sie trug, die alle so schön fanden.
    Aber noch nicht einmal so klappte es.
    Sie ließ das Haar zurück auf die Schultern fallen und strich es sich hinter die Ohren zurück. Während sie sich mit den Händen aufs Waschbecken stützte, streckte sie ihr Gesicht
ganz nahe vor den Spiegel, mit einer so schnellen Bewegung, dass sich ihre Augen zu einem einzigen, furchterregenden Zyklopenauge zu überschneiden schienen. Mit ihrem warmen Atem behauchte sie das Glas, bis ihr Gesicht kaum noch im Spiegel zu sehen war.
    Es war ihr einfach unbegreiflich, wie Viola und deren Freundinnen diesen besonderen Blick hinbekamen, mit dem sie Jungenherzen brechend durch die Gegend zogen, diesen koketten, erbarmungslosen Blick, der mit einem kurzen, kaum wahrnehmbaren Hochziehen der Augenbrauen darüber entscheiden konnte, ob einer vernichtet oder geschont wurde.
    Alice mühte sich mit verführerischen Posen, sah im Spiegel aber nur ein plumpes Mädchen, das ohne Anmut die Schultern hochzog und sich wie unter Narkose bewegte.
    Das eigentliche Problem, glaubte sie, waren diese zu dicken, rötlichen Wangen. Die ließen ihre Augen nicht zur Geltung kommen, die doch aus ihren Höhlen hervorspringen sollten, mit Blicken, die sich wie spitze Splitter in den Unterleib der Jungen bohrten, die sie ansahen. Sie wollte, dass ihr Blick niemanden kaltließ, dass er sich unauslöschlich einbrannte.
    Aber es blieb dabei, dass sie nur am Bauch, am Hintern und am Busen abnahm, während sich ihre Wangen unverändert wie kleine Kissen in einem Kleinmädchengesicht wölbten.
    Da klopfte es an die Badezimmertür.
    »Ali, wir essen«, drang die verhasste Stimme ihres Vaters durch die Mattglasscheibe.
    Sie antwortete nicht und saugte die Wangen tief in die Mundhöhle ein, um zu prüfen, ob sie so besser aussehen würde.
    »Ali, bist du da drinnen?«, rief ihr Vater noch einmal.

    Den Mund vorgeschoben und die Lippen geschürzt, gab Alice ihrem Spiegelbild einen Kuss, fuhr mit ihrer Zunge über die Zunge auf dem kalten Glas, schloss die Augen und wiegte den Kopf wie beim richtigen Küssen, aber zu regelmäßig, um nicht gespielt zu wirken. Den Kuss, den sie sich ersehnte, hatte ihr noch kein Mund gegeben.
    Davide Poirino, in der achten Klasse, war der Erste, der die Zunge gebrauchte, damals, nachdem er eine Wette verloren hatte. Dreimal ließ er sie im Uhrzeigersinn mechanisch um Alices Zunge kreisen, wandte sich dann zu seinen Freunden um und fragte: okay? Die Jungen prusteten vor Lachen, und einer rief, du hast die Lahme geküsst, doch Alice freute sich dennoch, denn es war ihr erster Kuss, und Davide war nicht mal zu verachten.
    Danach waren noch andere gekommen. Ihr Cousin Walter bei der Geburtstagsfeier ihrer Großmutter und ein Freund von Davide, dessen Namen sie noch nicht mal kannte und der sie heimlich fragte, ob er es auch mal bei ihr probieren dürfe. In einer verborgenen Ecke auf dem Schulhof pressten sie einige Minuten lang die Lippen aufeinander, ohne dass einer der beiden den Mut gefunden hätte, auch nur den kleinsten Muskel zu bewegen. Als sie sich endlich voneinander lösten, bedankte er sich und entfernte sich mit geschwellter Brust, im federnden Gang eines gemachten Mannes.
    Aber nun war sie hinter den anderen zurück. Während sich ihre Klassenkameradinnen über Stellungen unterhielten, über Knutschflecke oder was mit den Fingern anzustellen wäre, und das Für und Wider von Kondomen diskutierten, lag auf Alices Lippen nicht mehr als der schale Nachgeschmack dieses Stempelkusses in der achten Klasse.
    »Ali, hörst du mich?«, rief ihr Vater wieder, nun lauter.

    »Ja, Mann. Was ist denn?«, antwortete Alice entnervt, in einer Stimmlage, die draußen wohl nur undeutlich zu vernehmen war.
    »Das Abendessen ist fertig.«
    »Herr Gott, ich hab’s verstanden«, rief sie und fügte dann leise hinzu: »Ihr Nervensägen.«
     
    Soledad wusste,

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