Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi
zerstreut gewesen, nur die Fingernägel der rechten Hand zu kontrollieren.
Als rede sie über einen anderen, ließ Mattia die Worte der Direktorin über sich ergehen, und dabei fiel ihm ein, wie ihn in der fünften Grundschulklasse die Lehrerin Rita damals, nachdem er fünf Tage am Stück kein Wort herausgebracht hatte, in der Mitte des Klassenraums hatte Platz nehmen lassen, während sich die anderen in Hufeisenform um ihn herum gruppierten. Dann erklärte sie, Mattia habe gewiss ein großes Problem, über das er mit niemandem reden wolle. Und er sei ein sehr intelligenter, für sein Alter vielleicht zu intelligenter Junge. Und dann forderte sie die Mitschüler auf, Mattia zu zeigen, dass sie für ihn da seien und er sich ihnen anvertrauen könne, und ihn spüren zu lassen, dass sie seine
Freunde seien. Mattia hatte nur auf seine Füße gestarrt, und als die Lehrerin ihn fragte, ob er etwas sagen wolle, machte er tatsächlich endlich den Mund auf und fragte, ob er jetzt auf seinen Platz zurück dürfe.
Nach den Lobeshymnen kam die Direktorin zur Sache, und so wie Signor Balossino sie verstand, aber auch das erst einige Stunden später, hatten sämtliche Lehrer Mattias von einem speziellen Unbehagen berichtet, von einem schwer zu beschreibenden Gefühl der Unzulänglichkeit im Umgang mit diesem so außergewöhnlich begabten Jungen, der offenbar zu keinem seiner Mitschüler Kontakt zu knüpfen gewillt sei.
Die Direktorin hielt inne, lehnte sich auf ihrem bequemen Schreibtischsessel zurück und schlug einen Ordner auf, in dem sie gar nichts zu lesen hatte. Irgendwann klappte sie ihn wieder zu, so als falle ihr plötzlich ein, dass sie Besucher im Büro hatte, um den Eheleuten Balossino mit sorgfältig einstudierten Worten nahezubringen, dass dieses Gymnasium wohl nicht in der Lage sei, den Anforderungen ihres Sohnes voll und ganz gerecht zu werden.
Als sein Vater ihn dann beim Abendessen fragte, ob er tatsächlich die Schule wechseln wolle, hatte Mattia nur mit den Achseln gezuckt und dann wieder den blendenden Widerschein der Neonlampe auf der Messerklinge beobachtet, mit dem er sein Fleisch zerschneiden würde.
»Es regnet nicht wirklich schräg«, sagte Mattia, während er aus dem Wagenfenster blickte.
»Was meinst du?«, fragte Pietro und schüttelte instinktiv den Kopf.
»Es weht kein Wind draußen. Sonst würde auch das Laub an den Bäumen bewegt werden«, fuhr Mattia fort.
Sein Vater bemühte sich, ihm zu folgen, obwohl es ihn absolut nicht interessierte. Er befürchtete, dass es sich wieder um einen dieser verqueren Gedankengänge handelte.
»Und das heißt?«
»Das heißt, dass die Tropfen zwar schräg auf der Windschutzscheibe auftreffen, aber nur als Folge unserer Bewegung. Würde man den Einfallswinkel messen, müsste man sogar die Fallgeschwindigkeit berechnen können.«
Mit dem Finger folgte Mattia der Bahn eines Tropfens. Er hielt das Gesicht ganz dicht an die Scheibe, hauchte dagegen und zeichnete dann mit dem Zeigefinger eine Linie durch das kondensierte Wasser.
»Hauch doch bitte nicht gegen die Scheibe. Das gibt Schlieren«, beschwerte sich sein Vater.
Mattia schien ihn gar nicht gehört zu haben.
»Würden wir nicht die Umgebung außerhalb des Autos sehen und wüssten wir nicht, dass wir uns bewegen, könnten wir gar nicht sagen, ob die Tropfen oder wir selbst die Ursache sind«, erklärte Mattia weiter.
»Die Ursache wofür?«, fragte sein Vater zerstreut und auch ein wenig gereizt.
»Dass sie so schräg auftreffen.«
Pietro Balossino nickte ernst, ohne nachzudenken. Sie waren angekommen. Er legte den Leerlauf ein und zog die Handbremse an. Mattia öffnete die Wagentür, und ein Schwall frischer Luft wehte in den Innenraum.
»Ich komm dich um eins abholen«, sagte Pietro.
Mattia nickte. Signor Balossino beugte sich ein wenig vor, um ihm einen Kuss zu geben, doch der Gurt hielt ihn zurück. So richtete er sich wieder auf und sah zu, wie sein Sohn ausstieg und die Tür hinter sich zuwarf.
Die neue Schule lag in einem wohlhabenden Stadtviertel am Hügel. Das Gebäude stammte aus den Zwanzigerjahren und wirkte trotz der jüngsten Umbaumaßnahmen wie ein Fremdkörper zwischen all den prachtvollen Villen. Ein rechteckiger Kasten aus weißem Beton mit vier Reihen von Fenstern in gleich großen Abständen und mit zwei grün lackierten, stählernen Feuertreppen.
Mattia erklomm die zwei Treppenabsätze, die zum Haupteingang hinaufführten, und wartete etwas abseits aller Grüppchen
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