Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi
dass Alice ihr Essen wegwarf. Anfangs hatte sie noch, wenn sie sah, dass Alice nicht aufaß, mahnend zu ihr gesagt: Iss mal brav, mi amorcito , dort, wo ich herkomme, verhungern die Kinder auf der Straße.
Eines Abends sah ihr Alice fest in die Augen und erklärte wütend:
»Was willst du denn? Auch wenn ich mich vollstopfe, bis mir schlecht ist, werden die Kinder in Ecuador trotzdem nicht satt.«
Soledad hielt fortan den Mund, gab ihr jedoch stets kleinere Portionen als den anderen. Wobei das aber Alice egal war. Denn sie war in der Lage, die Speisen auf ihrem Teller mit einem Blick abzuwiegen und sich ihre dreihundert Kilokalorien pro Abendessen herauszupicken. Den Rest entsorgte sie. Sie legte die rechte Hand immer auf die Serviette und errichtete vor ihrem Teller eine Barrikade, die aus einem Wasser- und einem Weinglas bestand, die sie beide füllen ließ, obwohl sie den Wein nie anrührte. Während des Essens wurden dann noch der Salzstreuer und das Ölfläschchen strategisch geschickt vor dem Teller in Stellung gebracht. Jetzt brauchte sie nur noch zu warten, bis die anderen in den anstrengenden Kauvorgang vertieft oder anderweitig abgelenkt waren, um die bereits zerkleinerte Speise vorsichtig vom Teller in die Serviette zu schieben.
Auf diese Weise schaffte sie es, im Verlaufe einer Mahlzeit drei gefüllte Servietten in den Taschen ihres Jogginganzugs verschwinden zu lassen. Bevor sie sich die Zähne putzte, schüttete sie die Essensreste ins Klo und schaute zu, wie sie Stückchen für Stückchen dem Abfluss entgegenwirbelten. Zufrieden legte sie die flache Hand auf den Bauch und freute sich an dem Gefühl, dass er jetzt leer und rein wie eine Kristallvase war.
»Herrje, Sol, jetzt hast du schon wieder die Nudelsoße mit Sahne angemacht«, beschwerte sich ihre Mutter bei der Haushälterin. »Wie oft soll ich dir noch sagen, dass mir das nicht bekommt?«
Angewidert schob Signora Della Rocca den Teller von sich fort.
Alice selbst war mit einem wie ein Turban um den Kopf geschlungenen Handtuch zum Essen erschienen, um mit einer vermeintlichen Dusche ihren langen Aufenthalt im Badezimmer zu rechtfertigen.
Sie hatte länger überlegt, ob sie ihre Eltern überhaupt fragen sollte. Denn so oder so, machen würde sie es auf alle Fälle. Der Wunsch war einfach zu stark.
»Ich will ein Tattoo, auf dem Bauch«, kam sie gleich zur Sache.
Ihr Vater löste das Glas von den Lippen, aus dem er gerade einen Schluck nehmen wollte.
»Wie bitte?«
»Du hast mich schon verstanden«, antwortete Alice, indem sie ihn herausfordernd anblickte. »Ich will mich tätowieren lassen.«
Ihr Vater griff zur Serviette und wischte sich über Mund und Augen, als gelte es, ein unschönes Bild auszuradieren,
das ihm durch den Kopf gegangen war. Dann legte er sie wieder auf die Knie, strich sie sorgfältig glatt und nahm die Gabel zur Hand, darum bemüht, das ganze Ausmaß seiner irritierenden Selbstbeherrschung vorzuführen.
»Manchmal frage ich mich, wie du überhaupt auf solche Verrücktheiten kommst«, sagte er.
»Lass mal hören. Was willst du dir überhaupt tätowieren lassen?«, schaltete sich seine Frau ein, gequält dreinblickend, mit Sicherheit mehr wegen der Sahne in der Nudelsoße als wegen der Ankündigung ihrer Tochter.
»Eine Rose. Ganz klein. Viola hat auch so eine.«
»Und wer, bitte schön, ist diese Viola?«, fragte ihr Vater, mit einem allzu deutlich ironischen Unterton.
Alice schüttelte den Kopf, wandte den Blick ab und starrte auf den Tisch. Sie fühlte sich nicht ernst genommen.
»Viola ist eine Klassenkameradin von Alice«, antwortete Fernanda seufzend. »Mein Gott, sie hat doch schon Hunderte Male von ihr erzählt. Aber da sieht man’s wieder: Du bist mit deinen Gedanken immer irgendwo anders.«
Anwalt Della Rocca bedachte seine Frau mit einem arroganten Blick. Es fehlte nur, dass er sagte: Wer hat dir denn das Wort erteilt?
»Ihr müsst entschuldigen, aber ich bin nicht sonderlich daran interessiert, was sich Alices Klassenkameradinnen auf den Leib stechen lassen«, erklärte er schließlich. »Doch wie dem auch sei, jedenfalls lässt du dich nicht tätowieren.«
Alice schob eine weitere Gabel Spaghetti in die Serviette.
»Das kannst du mir nicht verbieten«, antwortete sie kühn und blickte weiter starr auf die Tischmitte. Ihrer Stimme war eine leichte Unsicherheit anzuhören.
»Könntest du das bitte wiederholen?«, forderte ihr Vater
sie auf, im gleichen Tonfall und mit der gleichen Ruhe wie
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