Die Einzige: In deinen Augen die Unendlichkeit (German Edition)
geschehen ist.
»Pia«, wispert Eio schließlich. Er drückt seine Lippen auf meine Stirn. Sie brennen dort wie Feuer. »Es ist nicht deine Schuld. Schau mich an. Es ist nicht deine Schuld.«
»Ohne mich würde er noch leben.«
»Es war seine Entscheidung.« Er nimmt mein Gesicht zwischen seine Hände und zwingt mich ihn anzusehen. »Entehre ihn nicht, indem du dir die Schuld gibst. Er hat uns das größte Geschenk gemacht, das er uns geben konnte. Indem du dich schuldig fühlst, verwehrst du ihm dieses Geschenk und machst ihn zum Opfer. Und er war kein Opfer, Pia. Er lebte ein nobles Leben und brachte ein nobles Opfer. Behalte ihn so in Erinnerung, denn damit hältst du sein Leben und seinen Tod in Ehren.«
Ich nicke langsam und lasse seine Worte auf mich wirken. »Gut«, flüstere ich. »Aber… es wird einige Zeit dauern.«
»Ich weiß.« Er nimmt mich in den Arm und hält mich ganz fest. Meine Wange liegt an seinem Herzen. Ich blicke hinaus über den Fluss und schlucke den Rest meiner Tränen hinunter.
»Hast du keine Angst?«, fragt er.
»Weshalb sollte ich Angst haben?«
»Weil du, na ja, weil du nicht mehr unsterblich bist. Zumindest soweit wir es wissen. Dass du bluten kannst, bedeutet noch nicht unbedingt, dass du alt wirst und stirbst. Vielleicht kommt es ja doch anders.«
»Wie können wir das herausfinden?«
»Da gibt es nur eine Möglichkeit.«
»Und die wäre?«
Er lächelt. »Du wirst einfach leben müssen.«
Ich starre ihn an und muss mich daran erinnern, dass ich das Atmen nicht vergessen darf.
»Klingt gut.« Ich kann sterben. Vielleicht sogar alt werden.
Eigentlich müsste ich in Panik verfallen. Die Zukunft, die sich bisher so unendlich und verlässlich vor mir ausgebreitet hat wie der Fluss neben uns, ist mit einem Mal ungewiss. Mit mir kann es zu Ende gehen. Jeden Augenblick. Ich könnte einfach… aufhören zu sein. Nicht länger existieren.
Es sei denn, Luri hat recht und es gibt ein Anderswo nach diesem hier, einen Ort, wo alle Elysia trinken und ewig leben. Wir waren zu gierig, haben zu früh nach der Unsterblichkeit gegriffen. Wenn wir geduldig abgewartet hätten, wäre sie am Ende vielleicht für alle erreichbar gewesen.
»Niemand sollte ewig leben«, flüstere ich. »So ist der Lauf des Lebens, oder? ›Es muss ein Gleichgewicht geben. Keine Geburt ohne Tod. Kein Leben ohne Tränen. Was von der Welt genommen wird, muss ihr zurückgegeben werden. Und wer nimmt und nicht zurückgibt, wer das Gleichgewicht des Flusses stört, von dem wird alles genommen werden. Niemand sollte ewig leben, sondern sein Blut dem Fluss schenken, wenn die Zeit gekommen ist, damit morgen ein anderer leben kann. So ist der Lauf des Lebens.‹«
»So ist der Lauf des Lebens«, murmelt er.
»Eio?« Er schaut mich immer noch mit diesen klaren, unendlich blauen Augen an und ich versinke in seinem Blick.
»Ja, Pia?«
Ich hebe die Hand und streiche über seine Wange. »Ich glaube, ich kann dich jetzt küssen.«
Und so ist der Lauf des Lebens.
EPILOG
Vier Tage lang dümpelte ich auf diesem Fluss dahin. Vier Tage, in denen ich mich versteckte und in ständiger Angst lebte, dass man mich entdeckt und erschießt, mit einem Gewehr oder einem Pfeil oder beidem. Ich aß, was ich von den Bäumen pflückte, und trank das Regenwasser, das sich in meinem Boot sammelte. Am dritten Tag fand ich Paolos Leiche in einer kleinen Bucht. Sie hatte sich in einem Gewirr aus Wurzeln verfangen und lag halb unter Wasser. Ein schrecklicher Anblick.
Als ich endlich sicher sein konnte, dass die anderen weg waren, wandte ich mich wieder flussaufwärts. Hätte ich einen Tag länger gewartet, hätte ich niemanden mehr angetroffen. Sie packten gerade ihre letzten Sachen zusammen, um für immer im Dschungel zu verschwinden und Pia mit ihnen.
Als sie mir erzählte, was geschehen war – dass sie Elysia trank und seither nicht mehr unsterblich ist –, war ich überrascht und traurig, versuchte aber, mir nichts anmerken zu lassen. Ein solches Wunder, dieses unsterbliche Mädchen, das ich im Dschungel kennenlernte. Sie schien voller Freude über ihre Sterblichkeit und fast entzückt von dem Gedanken an den Tod, obgleich er doch nur eine ferne, nicht erwiesene Möglichkeit ist. Genauso gut ist es möglich, dass sie noch immer die Verkörperung einer siebzehnjährigen Göttin ist, die irgendwo in den Weiten des Amazonas herumgeistert. Aber irgendwie glaube ich das nicht. Ich glaube, sie hat recht und die unsterbliche Pia starb an
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