Die eisblaue Spur
Fieberwahn,
jedenfalls dachte er, der Tupilak hätte sie verflucht, weil
sie die Leiche ausgegraben haben. Er hat Halldór liegen
lassen, aber die Kamera war noch mit dem Computer verbunden. Alles
war bereit zum
Filmen.«
»Und woher weiß
dieser Arnar das alles? Er war doch gar nicht mehr vor Ort,
oder?«
»Nein, Bjarki hat ihn in
der Nacht angerufen und ihm alles erzählt. Er hat versucht,
den Notruf in Island zu erreichen, um sich mit einem Arzt oder der
Polizei verbinden zu lassen, aber das ist zwischen den Ländern
nicht möglich. Nachdem er vergeblich versucht hatte, Freunde
oder Verwandte zu erreichen, hat er systematisch seine Kollegen
abtelefoniert. Das stimmt mit der Aussage eines anderen Kollegen
überein. Es war schon ziemlich spät, und außerdem
gibt es ja die Zeitverschiebung, deshalb ist keiner rangegangen.
Außer Arnar. Das nennt man wohl Ironie des Schicksals. Bjarki
stand unter Schock. Er hat Arnar seinen Zustand geschildert und ihm
gesagt, dass er glaubt, Halldór und er müssten
sterben.« Dóra verstummte. Der Polizist schaute ihr
konzentriert in die Augen. »Er hat Arnar auf eine harte Probe
gestellt. Tja, und der hat entschieden, nichts zu unternehmen
beziehungsweise niemanden zu benachrichtigen.«
»Sind denn beide noch in
der Nacht gestorben? Warum hat Bjarki nicht am nächsten Morgen
jemand anders angerufen, als ihm klar wurde, dass keine Hilfe
unterwegs war?«
»Er konnte es nicht.
Dafür hatte Arnar gesorgt. Anstatt Hilfe zu holen, wie er
Bjarki versprochen hatte, hat er seinen Freund Naruana angerufen
und ihm gesagt, er soll zum Camp fahren, die Verbindung der
Satellitenschüsseln kappen und die Schlüssel der Autos
und Motorschlitten entwenden. Er hat Naruana weisgemacht, das Ganze
wäre nur ein Streich. Naruana war stockbesoffen und hat keine
Fragen gestellt, ist einfach zum Camp gefahren und hat alles
gemacht, was Arnar ihm gesagt hat. Und sogar noch ein bisschen
mehr. Anstatt nur die Satellitenverbindung zu kappen, hat er die
Schüsseln beschädigt, und weil er keine Auto- oder
Motorschlittenschlüssel gefunden hat, hat er Zucker in die
Tanks gekippt. Mit anderen Worten: Es war Naruanas Schuld –
ohne es zu wissen –, dass die Männer keinen Arzt und
keine Hilfe bekommen haben, die ihnen vielleicht das Leben
hätte retten können. Arnar ist in der Zwischenzeit auf
den Server gegangen und hat alle Fotos von der Leiche im Eis
– bis auf eins – gelöscht, damit später
niemand herausfinden konnte, was passiert war. Er meinte, er
wäre zu dem Zeitpunkt schon blind vor Hass und nicht mehr
zurechnungsfähig gewesen.«
»Das war’s dann
wohl.« Der Polizist blickte von seinem Notizbuch zu
Dóra. »Hat Arnar seine Meinung inzwischen
geändert? Im Nachhinein bereut man ja oft, was man in einem
Anfall von Wut getan hat.«
»Das kann ich nicht sagen.
Ich weiß nur, dass er nach dieser fatalen Entscheidung wieder
angefangen hat zu trinken. Er meinte, er hätte sich direkt am
nächsten Morgen mit Alkoholvorräten eingedeckt und dann
so lange gesoffen, bis er sich zum Entzug gemeldet
hat.«
»Und die Männer sind
gestorben.«
»Ja. Halldór
zuerst. Er ist nicht wieder zu Bewusstsein gekommen und im
Büro gestorben. Bjarki hat sich nicht getraut, ihn wieder
rüberzuschleppen. Zwei Tage später ist Bjarki auch
gestorben.«
»Aber woher will Arnar das
wissen? Die Männer hatten doch keinen Kontakt mehr zur
Außenwelt.«
»Durch Naruana. An dem
Tag, als Halldór starb, hat sich Bjarki mit Skiern auf den
Weg ins Dorf gemacht, um Hilfe zu holen. Er war sehr
geschwächt und schwerkrank, hat es aber bis ins Dorf
geschafft. Aber die Dorfbewohner haben ihm nicht die Tür
aufgemacht und sein Rufen ignoriert. Nur Naruana nicht. Er hat
Bjarki gesehen, als er vom Hafen nach Hause ging, und ihm
angeboten, ihn zurück ins Camp zu bringen. Bjarkis Skier
stehen wahrscheinlich immer noch vor dem Haus.«
»Warum hat er das gemacht?
Wäre es nicht logisch gewesen, Bjarki aus dem Weg zu gehen,
nachdem er im Camp alles Mögliche zerstört
hatte?«
»Das müssen Sie ihn
selbst fragen. Vielleicht wollte er verhindern, dass Bjarki mit
anderen Leuten redet. Jedenfalls hat er ihn mit einem geliehenen
Motorschlitten zurück ins Camp gebracht. Wahrscheinlich hat er
Bjarki vorgelogen, dass Hilfe unterwegs wäre. Als Naruana dann
im Büro gesehen hat, dass Halldór tot war, ist ihm
klargeworden, dass das alles andere als ein harmloser Streich war.
Ich glaube, er hat bei Halldór und Bjarki
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