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Die Eisfestung

Titel: Die Eisfestung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Stroud
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Stimmen redeten hastig auf den Vater ein und die Schritte hörten auf. Schweigen. Der Vater sagte nichts mehr.
    Emily blickte über ihre Schulter. Marcus hatte sich auf seinem Mauervorsprung halb aufgerichtet, das kalte Licht des Scheinwerfers fiel auf sein Gesicht. Die blanke Verzweiflung stand daraufgeschrieben. Als sie das sah, verflüchtigte sich ihre Wut und mit ihr der Vorsatz, sofort runterzuklettern und ihn da oben mit seinen Problemen allein zu lassen. Sie war jetzt ruhig und entschlossen.
    Lügner oder nicht – sie wusste, was Marcus jetzt brauchte, sie sprach seine Sprache und niemand sonst. Sie musste weiter.
    Langsam, mit Schmerzen bei jeder Bewegung, zog sie sich auf den spitzen Steinen weiter nach oben. Ein paar Augenblicke später tauchte sie in den Lichtstrahl des Scheinwerfers ein. Vorsichtig, langsam drehte sie sich um und presste den Rücken gegen die Mauer. Sie konnte Marcus jetzt gut sehen.
    Emily befand sich auf Augenhöhe mit dem Wehrgang, immer noch etwas niedriger als Marcus, aber hoch genug, um auf die Plattform des Turms blicken zu können. Es standen dort drei Personen. In dem blendenden Scheinwerferlicht konnte sie nur wenig erkennen, aber einer davon war der Vater, und der andere war der Einsatzleiter, der Polizist, den sie schon kannte. Sie hatten sie gerade erst bemerkt. Irgendjemand rief etwas, was Emily nicht verstand. Aber Marcus hatte es gehört. Langsam drehte er sich in ihre Richtung.
    »Hallo, Marcus«, sagte sie leise.
    Sein Gesicht war bleich und verquollen, auf seiner Schläfe war Blut. Seine Augen lagen im Schatten.
    »Em!« Seine Stimme klang heiser, aber er schien sich zu freuen. »Ich dachte, sie hätten dich schon lange geschnappt.«
    »Nein.« Sie war unsicher, wie sie seine Reaktion deuten sollte, in welchem Tonfall sie weiterreden sollte. »Nein, sie haben mich nicht gefunden.«
    »Das ist ja prima. Wo warst du?«
    »In der Küche. In einem Backofen.«
    Sie hörte ihn leise lachen. »Das ist nicht wahr! Noch besser als der Kamin!« Seine Stimme wurde traurig. »Sie haben Simon erwischt, ich hab es mitgekriegt.«
    »Ja.«
    »Bei mir haben sie den Rauch gerochen, Em. Ich hab so gefroren, dass ich unbedingt eine Zigarette rauchen musste. Sie haben es gerochen, wie du gesagt hast. Sind dann gekommen, um nachzuschauen.« Ein Gedanke streifte ihn. »Warum bist du hierhergekommen, Em? Du hättest vielleicht noch fliehen können.«
    »Weil ich dich gesehen habe. Um dir zu helfen.«
    »Das ist nett von dir, aber wir können jetzt nichts mehr tun. Die Burg ist gefallen. Es ist alles vorbei.«
    Er hatte seinen Kopf auf die Knie gelegt, und seine Stimme klang so matt und abgekämpft, dass sie ihn kaum verstehen konnte.
    »Wir sollten jetzt runterkommen, Marcus«, sagte sie. »Wir sollten zusammen hier aus der Burg abziehen, durch das offene Tor hinausgehen.«
    »Und was dann, Em? Sie erzählen mir alle möglichen Sachen, aber ich kann mir nichts davon wirklich vorstellen. Nichts ist so wirklich, wie es die Burg hier war. Dad ist auch da, er will, dass ich zu ihm zurückkehre, sagt er jedenfalls. Sie versprechen mir alles Mögliche – aber, weißt du, es ist ganz komisch, ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendwas davon für mich passen soll. Ich weiß überhaupt nichts mehr. Was soll ich mit dem Ganzen? Ich bin nur noch müde. Alles ist so öde und leer.«
    »Aber das muss doch gar nicht sein, Marcus. Vielleicht musst du ihnen nur etwas vertrauen...«
    Seine Stimme wurde sofort scharf. »Warum sollte ich? Und warum sollte ich eigentlich dir vertrauen?« Sein Kopf hob sich von seinen Knien, seine im Schatten liegenden Augen bohrten sich in sie. » Sie haben dich hergeschickt, oder? Haben dir gesagt, was du mir erzählen sollst, oder?«
    »Du bist wohl bescheuert! Glaubst du, ich würde jetzt zur Verräterin werden? Nach allem, was wir hier miteinander durchgemacht haben?« Sie hatte sich bisher beherrscht und ihre Wut unter Kontrolle behalten, doch jetzt brach sie aus ihr heraus. Aber sie spürte, dass das die Sprache war, die Marcus verstand.
    Er zuckte die Achseln, irgendwie besänftigt. »Könnte doch sein«, brummte er. »Ja, stimmt schon, ich vertraue dir. Aber alles gleitet irgendwie weg, Em. Ich hab versucht, das Dad zu erklären, bevor du gekommen bist, das mit der Burg, was sie für mich bedeutet. Sie haben mich das alle gefragt, sie wollten alle wissen, was wir hier gewollt haben. Und ich konnte es ihnen nicht erklären... ich konnte es nicht so ausdrücken, dass

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