Die Eisfestung
dass das Erdgeschoss und der erste Stock sauber sind, auch wenn das Wetter uns nicht gerade hilft.«
»Okay. Dann überprüfen Sie jetzt alle Räume im zweiten Stock. Es gibt dort nur zwei, die offiziell betreten werden dürfen, aber wir haben auch noch diese da – sehen Sie -, vielleicht haben sie es ja dorthin geschafft. Auf irgendeinem Gesims an der Mauer entlang oder durch ein verrostetes Gitter. Hier zum Beispiel. Oder hier.« Emily hörte, wie Papier auseinandergefaltet wurde.
»Wie soll man dort reinkommen können? Sieht ziemlich unzugänglich aus.«
»Das hat man uns von der ganzen verdammten Burg gesagt, Hatchard. Eine uneinnehmbare Festung. Sie werden die beiden zusammen finden, vermute ich.«
»Nur zwei, Sir?«
»Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass es mehr sind. Egal was Jones erzählt hat. Nur zwei.«
Die Stimmen entfernten sich und Emily hörte sie nicht mehr. Um das Chaos in ihrem Kopf unter Kontrolle zu kriegen, begann sie, Zahlen vor sich hin zu murmeln. Es war zu dunkel, um auf die Uhr schauen zu können, deshalb zählte sie die Sekunden, eine nach der anderen, immer bis sechzig. Wenn sie fünfzehnmal bis sechzig gezählt hatte, dann würde sie ihren Ausbruchsversuch machen, komme, was da kommen mochte. Fünfzehn Minuten war lange genug. Dann würden die Sucheinheiten genug Zeit gehabt haben, um sich auf den oberen Stockwerken zu verteilen. Und dann würde es draußen richtig dunkel sein.
Die ersten fünf ihrer fünfzehn Sechzig-Sekunden-Zählrunden gab es jede Menge Bewegung, ganz in ihrer Nähe, vor allem in der Vorhalle. Schwere Gegenstände, wahrscheinlich die Suchscheinwerfer, wurden hereingebracht; Befehle wurden gegeben; Leute hasteten die Wendeltreppe hinauf und hinunter, eilten einzeln oder zu zweit den Mauerumgang entlang zu den anderen Türmen. Immer wieder huschte der Lichtstrahl einer Taschenlampe über die Wände der Küche, doch keiner kam auf die Idee, dort noch einmal zu suchen.
In den nächsten fünf Minuten wurde es ruhiger. Emily lauerte in ihrem Ofen wie ein Tiger, bereit zum Sprung. Als sie mit dem Countdown der letzten fünf Minuten begann, zitterte sie vor Furcht und angespannter Erwartung. Noch drei Minuten... Zweifel stiegen in ihr hoch. Warum es überhaupt versuchen? Es war hoffnungslos. Sie würde es nie schaffen. Die Chancen standen eins zu tausend.
Noch zwei Minuten... Nein – du musst stark sein. Sie würde blitzschnell an der Maueröffnung sein und das Seil herunterlassen. In null Komma nichts. Und dann wäre sie auch schon unten und ab durch den Schnee, wie Simon gesagt hätte.
Noch eine Minute... Sie sah Simon vor sich, wie er abgeführt wurde... Nur sie und Marcus waren noch übrig... Marcus… sein schlimm zugerichtetes Gesicht… Er hatte erzählt, dass …
Die Zeit war abgelaufen.
Sie zögerte keine Sekunde – sie wusste, wenn sie das tat, würde sie nie mehr gehen. Sie holte tief Luft, schob Kopf und Schultern durch die schmale Öffnung. Ein schneller Blick zur Vorhalle, dem gefährlichsten Ort in der ganzen Burg, dann wand sie sich wie ein Wurm ganz aus dem Ofen heraus. Heftig atmend, mit wild klopfendem Herz lag sie in der Dunkelheit auf den Steinplatten der Küche.
Sie durfte keine Zeit verlieren. Sie stand sofort auf und schlich auf Zehenspitzen zum Türbogen. Links wehten ein paar vereinzelte Schneeflocken von der Maueröffnung zum Rittersaal herein. Es war inzwischen Nacht geworden, und ohne den Suchscheinwerfer, der irgendwo weiter oben in Position gebracht worden war, hätte Emily die eigene Hand nicht vor Augen sehen können. Der Widerschein des mächtigen Lichtstrahls tauchte die gegenüberliegende Seite des Rittersaals in ein gespenstisches Licht. Der große Kamin hing als schwerer schwarzer Erker in der Mitte der Mauer.
Emily spähte den Mauerumgang entlang. Der Weg bis zum nächsten Turm war frei. So weit, so gut. Sie zog ihre Kapuze tief ins Gesicht, duckte sich so weit wie möglich, presste sich ganz nah an die Mauer und begann, lautlos wie ein Gespenst über die Steinplatten zu huschen.
Erst als ihr Fuß auf dem spiegelglatten Untergrund ausglitt, fiel ihr ein, dass Marcus an dieser Stelle eine Eisfalle angelegt hatte. Im nächsten Augenblick fiel sie schon auf den Boden und schrie bei dem harten Aufprall vor Schmerz laut auf -
Ihr Schrei musste überall zu hören gewesen sein. Eine Sekunde lang lag sie, nach Luft ringend, auf dem Boden, gleich würde der Scheinwerfer sich nach unten richten und sie anstrahlen.
Dann
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