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Die Eisfestung

Titel: Die Eisfestung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Stroud
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vergittert zu sein.
    Marcus’ Stimme ertönte klar und deutlich aus dieser Öffnung. Emily schnappte Wörter und Satzfetzen auf, sie konnte jetzt verstehen, was er sagte: »... sobald ich rauskomme, werdet ihr mich verhaften, so blöd bin ich nicht... ich habe diese Burg erobert, und deshalb ist sie mein rechtmäßiger Besitz... ihr habt sie belagert, und als ihr versucht habt einzudringen, habt ihr bekommen, was ihr verdient...« Er sprach rasend schnell, die Wörter stolperten nur so aus seinem Mund heraus. Emily beschleunigte ihre Schritte und durchquerte den Raum, um zu sehen, was hinter dem Türbogen war. Sie blickte in einen schmalen Gang mit Arkadenfenstern, der früher einmal rund um den Rittersaal geführt haben musste. Die ersten Meter waren dunkel und überwölbt, doch danach war die Decke eingestürzt und es kam von oben Scheinwerferlicht. Emily begriff, dass sie sich direkt unter den Zinnen befand, an deren Ende Marcus auf einem Mauervorsprung kauerte.
    Sie ging ein paar Schritte den Gang entlang, bis sie ins Freie kam. Unter ihren Füßen knirschte der Schnee. Das grelle Scheinwerferlicht ließ alles überscharf hervortreten, jeden Stein der beiden Mauern rechts und links, die immer niedriger und zerklüfteter wurden, bis da nur noch Schnee und Eis und Geröll waren. Ein Stück weiter vorne versperrte ein Gitter den Weg. Der Gang endete im Leeren.
    Emily drehte sich um und blickte nach oben. Sie sah Marcus. Sein Schattenriss hob sich wie der eines Wasserspeiers gegen den Himmel ab. Er kauerte unbeholfen auf dem Mauervorsprung, seine Hände umklammerten krampfhaft die Steine rechts und links neben seinen Füßen. Seine Kapuze hing zerrissen herunter, seine Haare waren wild und zerzaust; über seiner Schläfe war ein dunkler, verkrusteter Fleck. Er starrte in die Tiefe, sein Gesicht war fast ganz im Schatten. Jemand redete auf ihn ein, leise, beruhigende Worte, und ein Schreck durchfuhr Emily, denn sie hatte die Stimme, die da vom Turm herüberkam, schon einmal gehört. Es war ein Mann, der da sprach, aber es war nicht der Polizist – es war Marcus’ Vater.
    »... nicht hier sein«, sagte die Stimme. »Keiner von uns will das. Komm herunter und lass uns über alles reden.«
    »Geh weg.« Marcus’ Stimme war kaum zu hören. »Ich will nicht mit dir reden. Ich will dich auch nicht sehen. Bleib, wo du bist, oder ich springe! Ich tu’s!«
    »Ich bitte dich, komm runter. Du musst auch nicht mit mir reden. Ich versprech dir, ich geh gleich weg. Wenn ich nur weiß, dass du in Sicherheit bist werde ich schon glücklich sein.«
    Emily biss sich auf die Lippen. Die Heuchelei dieses Mannes war unerträglich! Sein flehender Tonfall klang fast so, als ob er es wirklich ehrlich meinte; man hätte fast glauben können, dass er sich wirklich Sorgen machte. Dass er seinen Sohn wirklich liebte. Aber das würde Marcus jetzt nicht mehr beeindrucken. Sie hatte Angst um ihn. Mit leiser Stimme, damit keiner auf dem Turm sie bemerkte, flüsterte sie:
    »Marcus!«
    Keine Reaktion. Er hatte seinen Kopf in die andere Richtung gedreht, er konnte sie nicht hören. Sie war zu weit weg, zu weit unten, er konnte sie auch nicht sehen. Emily warf einen prüfenden Blick auf die Mauern. Die Mauer an der Innenseite war niedrig, nur etwa hüfthoch, aber weiter vorne ragte sie steil in die Höhe. Sie war ungefähr einen Meter dick – nur ein Meter, danach ging es zwei Stockwerke in die Tiefe, bevor man unten im Schnee des Innenhofs landete. Außerdem war die Mauer mit Schnee und Eis überzogen.
    Emily zögerte. Sie schaute wieder zu Marcus. Er schwankte leicht, wirkte zu Tode erschöpft. Sie fluchte – er würde nicht mehr klar denken können. Er würde es tun, sie wusste, er würde es tun. Es sei denn …
    Schwerfällig hievte sie sich auf die niedrige Mauer und krabbelte auf allen vieren langsam vorwärts. Ihr Knie schmerzte, und sie bemühte sich krampfhaft, nicht daran zu denken, dass neben ihr ein schwarzer Abgrund gähnte. Vorsichtig begann sie, an der Schmalseite der Mauer in die Höhe zu klettern.
    Oben im Schweinwerferlicht erzählte der Vater weiter seine Lügen.
    »Wie oft soll ich dir noch sagen, wie leid mir das tut? Ich weiß, dass ich mich fürchterlich aufgeführt habe, als du die ganze Nacht weg gewesen bist, aber ich hab mir eben Sorgen gemacht, das ist alles. Ich will nicht, dass dir irgendwas passiert -«
    »Ja, genau, und deshalb sperrst du mich am liebsten ein; du willst alles kontrollieren, was ich mache

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