Die Elfen des Sees
daraus, ängstlichen Reitern einen Schrecken einzujagen«, erklärte die Hohepriesterin und fügte hinzu: »Ich habe es ihm ausdrücklich verboten, aber er ist sehr eigensinnig. Sieh es ihm nach. Er meint es nicht böse.«
Lya-Numi sagte nichts. Die Furcht, gegen die sie so beharrlich angekämpft hatte, hatte neue Nahrung bekommen und wütete in ihren Eingeweiden. Auch wenn sie die ganze Nacht hindurch fliegen würden, eines war sicher: Sie würde kein Auge zubekommen.
Als sie erwachte, zog der Morgen im Osten herauf. Erschrocken richtete sie sich auf und schlang hastig die Arme um die Hohepriesterin, an deren Rücken gelehnt sie geschlafen hatte. Das Letzte, an das sie sich erinnerte, war das prächtige Abendrot, das die untergehende Sonne an den westlichen Horizont gezeichnet hatte, und der unglaublich klare Sternenhimmel, der sich wenig später über ihnen gewölbt hatte …
Sie hatte geschlafen! Die ganze Nacht!
»Und du bist nicht hinuntergefallen.« Die Hohepriesterin drehte sich zu ihr um und lächelte. »Wir sind bald am Ziel«, sagte sie. »Da hinten beginnen die Sümpfe von Numark.«
Lya-Numi nahm all ihren Mut zusammen, richtete sich vorsichtig auf und spähte über Gilraens Schulter. Das Bild, das sich ihr bot, zog sie sogleich in den Bann. Im Licht der Morgensonne breiteten sich die Baumkronen der Wälder unter ihnen wie ein endloses grünes Meer aus. Zu ihrer Rechten reckten sich die schneebedeckten Gipfel des Ylmazur-Gebirges viele tausend Längen in die Höhe, während sich der Yunktun weit im Osten wie eine funkelnde Schlange durch die grüne Ebene wand.
Als die Sonne den höchsten Stand erreichte, wurden die Berge flacher und der Wald unter ihnen spärlicher. Das breite Band des Yunktun verzweigte sich und fächerte sich zu einem weitläufigen Delta auf, dessen Arme die Sümpfe von Numark mit Wasser speisten.
Rukh flog nun tiefer und setzte auf einer der letzten Anhöhen vor den Sümpfen zur Landung an. »Das letzte Stück werden wir reiten«, erklärte Gilraen der überraschten Lya-Numi nach der Landung, die wie selbstverständlich davon ausgegangen war, dass der Riesenalp sie bis zum Tempel tragen würde. Mit steifen Gliedern löste sie die Haltegurte, erhob sich und kletterte von Rukhs Rücken.
»In den Sümpfen könnte Rukh nicht wieder aufsteigen«, sagte Gilraen, während sie die Bauchgurte löste und den Sattel vom Rücken des Riesenalps zog. Mit den Worten: »Ich danke dir, mein Freund«, verabschiedete sie sich von dem Riesenalp, strich ihm sanft über das Gefieder und trat dann ein paar Schritte zurück, damit er davonfliegen konnte. Rukh schüttelte sich, begab sich zur Westseite des Hügels, dessen Flanke steil zu einer Senke hin abfiel, und schwang sich mit einem kräftigen Satz in die Lüfte.
»Was wäre unser Land ohne diese klugen Vögel?« Gilraen schaute dem Riesenalp nach. Dann richtete sie das Wort wieder an Lya-Numi. »Und? Wie fühlst du dich?«
»Besser.« Lya-Numi lächelte. »Ihr habt recht. Der Flug ist gar nicht schlimm. Man muss sich nur erst daran gewöhnen.«
Sie gönnten sich eine Rast, während sie auf die Priesterinnen warteten, die ihre Pferde bringen würden. Lya-Numi nutzte die Zeit, um von Gilraen mehr über das Leben im Tempel der Gütigen Göttin und die Pflichten einer Priesterin zu erfahren. Was sie zu hören bekam, war nicht gerade dazu angetan, ihre Begeisterung zu wecken. Als Tochter des Graslands liebte sie die Freiheit und das Ungebundensein. Ein Leben nach strengen Regeln hinter dicken Mauern, wie es die Priesterinnen führten, erschien ihr wie ein Käfig.
Als sich die Sonne dem Horizont zuneigte, tauchte eine Gruppe von sechs Berittenen auf, die in helle Umhänge gekleidet waren. Sie führten den Schimmel der Hohepriesterin und zwei weitere Pferde am Zügel mit sich. Wie auf ein geheimes Kommando hin saßen sie gleichzeitig ab, schlugen die Kapuzen der Umhänge zurück und neigten zum Gruß leicht das Haupt. Die Hohepriesterin nickte ihnen zu, lächelte und wies zwei Elfen an, Rukhs Sattel auf das Packpferd zu laden. Dann gab sie einer jungen Priesterin ein Zeichen, ihnen die Pferde zu bringen.
»Das ist Elwern«, stellte sie Lya-Numi die Priesterin vor. »Sie lebt seit fünf Wintern im Tempel und wird sich deiner annehmen und dich in allem unterweisen, was eine angehende Priesterin wissen muss.«
»Aber ich …« Lya-Numi blinzelte verwirrt. Sie hatte geglaubt, im Tempel an der Seite der Hohepriesterin zu leben. Ein Irrtum, wie sich
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