Die Elfen des Sees
Lya-Numi
Dirair hielt den Speer abwehrbereit in den Händen. Jeder Muskel in seinem Körper war angespannt, der Blick starr geradeaus gerichtet. Sein Atem ging stoßweise. Schweiß perlte auf seiner Stirn. Auf dem Boden lag sein Langbogen. Achtlos fortgeworfen, der letzte Pfeil verschossen. Daneben zwei Körper. Blutverschmiert und reglos im Steppengras.
»Dirair!« Lya-Numi schrie so laut sie konnte, während sie über die Steppe rannte. »Dirair, flieh!«
Vergeblich.
Dirair hörte sie nicht. Seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Quarlin, der keine fünf Schritte von ihm entfernt mit angelegten Ohren und gebleckten Zähnen im Gras kauerte.
Lya-Numi lief schneller. Doch was sie auch tat, wie schnell sich ihre Beine auch bewegten, sie kam nicht voran.
»Dirair!«
Lya-Numi schluchzte auf. Verzweiflung schnürte ihr die Kehle zu. Dirair durfte nicht sterben. Nicht Dirair, den sie so sehr liebte …
Lya-Numi schreckte aus dem Schlaf auf. Ihr Herz raste. Und sie zitterte, während die Bilder des Traums weiter an ihren Gedanken hafteten wie ein lebendiges Ding, das sich nicht abschütteln ließ.
Dirair!
Tränen schossen ihr in die Augen, als sie an den jungen Nebelelfen dachte, der ihr mehr bedeutete als alles andere und der ihr so nahestand wie niemand sonst. Dirair, der mit zwei Freunden aufgebrochen war, um einen Quarlin zu jagen. Dirair, der tot ist …
»Nein!« Hastig verscheuchte Lya-Numi die innere Stimme, die ihr zuflüstern wollte, dass der Traum die Wahrheit gezeigt habe. Es war ein Albtraum gewesen! Eine Ausgeburt der Ängste, die sie quälten, weiter nichts.
Lya-Numi straffte sich und versuchte, nicht auf die innere Stimme zu achten, die ihr einreden wollte, dass sie sich etwas vormache und die Wahrheit verleugne.
Seit vielen Sommern schon wurde sie häufig unvermittelt von Visionen heimgesucht. Heraufziehende Stürme, Trockenheit oder Elfen in Not, dies und noch vieles mehr offenbarte sich ihr in Form von verworrenen Bildern, die sich zumeist in der Nacht, aber auch am Tage wie von selbst vor ihrem geistigen Auge formten. Zunächst hatten die Bilder sie verwirrt und geängstigt, dann aber hatte sie gelernt, sie anzunehmen und sie zum Wohle aller zu Nutzen.
»Es war nur ein Traum!« Lya-Numi ballte die Fäuste, während sie die Worte so nachdrücklich sprach, als wären sie eine Beschwörungsformel. »Nur ein furchtbarer Traum.«
Drei Mondläufe war Dirair nun schon fort. Lya-Numi hatte nicht gewollt, dass er ging, aber er hatte sich nicht umstimmen lassen. »Jeden Abend bei Sonnenuntergang werde ich deinem Bruder eine Nachricht senden«, hatte er ihr zum Abschied versprochen und sich auch daran gehalten, bis die Gedankenverbindung vor mehr als einem Mondlauf plötzlich abgerissen war. Sogleich war das ganze Dorf in großer Sorge um die drei jungen Elfenjäger gewesen.
Viele hatten Rat bei Lya-Numi gesucht, sie aber hatte ihnen nichts von den Träumen erzählt und behauptet, keine Bilder empfangen zu haben, obwohl der Traum von Dirair und dem Quarlin sie auch damals schon jede Nacht heimgesucht hatte.
Vor ein paar Sonnenläufen hatte ein Suchtrupp die entsetzlich verstümmelten Leichen von Dirairs Freunden nahe einem Lagerplatz in der nördlichen Steppe gefunden und sie ins Dorf zurückgebracht. Es gab keinen Zweifel, dass sie einem Quarlin zum Opfer gefallen waren. Von Dirair hingegen fehlte jede Spur. Nur seine Decke war am Lagerplatz zurückgeblieben. Für Lya-Numi war das Beweis genug, dass er am Leben war. Vielleicht verfolgte er den Quarlin allein? Oder er war verletzt geflohen und hatte die Fähigkeit der Gedankensprache wieder verloren, die er erst vor kurzem erlernt hatte? Lya-Numi war noch zu jung, um die Gedankensprache zu erlernen. Erst in zwei Sommern würde man sie in dieser Kunst unterweisen. Sie wusste aber, dass man etwas vergessen konnte, wenn man einen Schlag auf den Kopf bekam, und klammerte sich daran. Das Einzige, was für sie zählte, war, dass es Hoffung gab, die für sie erst dann enden würde, wenn die Suchtrupps auch Dirairs Leichnam in das Dorf am See brachten.
»Lya-Numi? Lya-Numi, bist du schon wach?« Jemand klopfte energisch gegen die Tür der aus Schilfgeflecht und Hölzern errichteten Hütte. Lya-Numi erkannte die Stimme ihrer Mutter und richtete sich auf. Durch die Ritzen und Spalten der Wände war das erste Grau des Morgens zu sehen.
»Ja, ich bin wach!«, gab sie zur Antwort, machte aber keine Anstalten aufzustehen. »Was gibt es?«
»Es ist Besuch
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