Die elfte Jungfrau
eitel!‹«
»Hat das der Prediger heute in der Kirche gesagt? Ich habe nicht so genau zugehört.«
»Nein, das hat der Prediger in der Bibel geschrieben. Verzeiht, Frau Barbara, ich bin wirklich eine Spottdrossel. Unsere Clara hat mir ihre neueste Bibelübersetzung zu lesen gegeben, und ich muss sagen, sie hat einen seltsam mieselsüchtigen Text gewählt. Ich werde noch etwas darüber nachdenken müssen.«
Ihre Stiefmutter stand vor dem leicht gewölbten Spiegel, der an der getäfelten Wand hing, und nahm den Schleier von ihrer doppelhörnigen Haube, mit der sie beinahe so viel Aufsehen erregt hatte wie mit den langen Schleppärmeln ihrer im burgundischen Stil geschnittenen Houppelande. Almut ordnete ohne dieses Hilfsmittel der weiblichen Schönheit ihr schlichtes weißes Gebände.
»Nun, ich nicht. Ich überlasse es den Geistlichen, die Bibel auszulegen. Aber ich weiß, du willst den Dingen immer auf den Grund gehen. Wenn es dir denn Spaß bereitet...«
Sie setzten sich auf die Polsterbank am Kamin und streckten ihre kalten Füße der Wärme entgegen.
»Es ist gut, dass nun wieder Frieden in der Stadt herrscht und die Geistlichkeit zurückgekommen ist.«
»Nicht nur die, Frau Barbara. Auch die Schöffen und der Vogt werden wohl bald wieder ihre Aufgaben übernehmen. Es heißt, der Erzbischof und der Rat haben sich endlich auf eine Sühne geeinigt.«
»Dein Vater hat mir gestern erzählt, heute Nachmittag solle vor dem Rathaus die Urkunde verlesen werden.«
»Heute schon? Oh, das trifft sich gut. Ich hoffe, er wird mich dorthin begleiten.«
»Du wirst ihn schon davon überzeugen können.« Frau Barbara lächelte wissend.
»Wir werden sehen. Wo ist er eigentlich? Ich habe ihn nach der Messe aus den Augen verloren.«
»Er wollte seinen Parler, den Berends Steinheuer, besuchen. Er hat sich letzte Woche auf der Baustelle am Rheingassentor den Rücken verletzt. Er kommt aber bestimmt zur Sext zurück.«
»Der Parler ist hoffentlich nicht wieder einer seiner Kandidaten für mich«, argwöhnte Almut mit einem Zwinkern.
»Nein, der Steinheuer ist verheiratet. Aber er hat einen Sohn in deinem Alter …«
»Ei wei!«
»Er ist vielleicht ein, zwei Jahre jünger als du, aber dein Vater spricht mit großem Respekt von ihm. Er scheint ein guter Steinmetz zu sein. Man nennt ihn jetzt schon Meister.«
»Nein, Frau Barbara, nein! Ich werde auch einen sechs- oder siebenundzwanzigjährigen Mann nicht heiraten.«
»Nein, ich weiß. Aber hiermit habe ich deinem Vater gehorcht und dich auf den Jungen aufmerksam gemacht. Er heißt übrigens Florens.«
Almut wechselte das Thema, ohne noch einmal auf eine mögliche Verheiratung einzugehen.
»Stell dir vor, wir haben unter unseren Schülerinnen ein neues Mitglied. Unser Päckelchesträger Pitter hat sich im hohen Alter von vierzehn Jahren entschlossen, das Lesen und Schreiben zu lernen!«
Frau Barbara war der Junge bekannt, der sich seinen und seiner Familie Lebensunterhalt als Bote, Stadtführer, Gepäckträger und Born aller möglichen nützlichen und gelegentlich auch überaus delikaten Informationen verdiente.
»Und, gefällt es ihm?«
»Das Entziffern von Wörtern scheint ihm Freude zu bereiten, die Gesellschaft hingegen hat ihm einiges Unbehagen verursacht, aber inzwischen hat sich das Gekicher gelegt, meint Clara.«
»In einer Gruppe von elf halbwüchsigen Mädchen seine Unkenntnis zu offenbaren, verlangt sicherlich mehr Mut von einem Jungen seiner Art, als nachts durch das dunkle Köln zu ziehen!«
»Eine andere Art von Mut, das ganz gewiss«, bestätigte Almut.
»Ich finde es bewundernswert von euch, die Mädchen zu unterrichten. Ich habe auch darauf bestanden, dass Mechthild zusammen mit Peter die Lektionen nimmt. Dein Vater hat zwar etwas herumgeknurrt, aber dann doch eingesehen, dass ein Weib, das - etwa wie ich - in der Lage ist, die Mengen Baumaterial zu berechnen und Verträge zu lesen, durchaus einen Wert für einen Mann haben kann.«
»Hat er eingesehen. Aha.«
»Und ein bisschen Latein ist auch nicht ganz schädlich, fand er nach einigem Überlegen.«
»Zumal er es selbst nicht beherrscht!«
»Mit Ausländern kann man sich jedenfalls ganz gut verständigen, vor allem, wenn man Marmor aus Carrara für seine Eingangshalle haben möchte.«
»In der Tat.«
»Darum hat er einen neuen Lehrer für Peter eingestellt. Damit der später solche Verhandlungen selbst führen kann.«
»Oder zumindest nur seine Schwester um Hilfe fragen muss.«
»Magister
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