Die Enden der Welt
Flure, stellen Fragen auf Russisch, drängen die Schaulustigen in ihre Kabinen. Als Viktor Boyarski vorbeieilt und nur fragt: »Wer? Wer ist es?«, rufe ich ihm nur zu, in Margas Kabine solle er zuerst nachsehen. Er nickt, ernüchtert, aber beherrscht.
Eine Viertelstunde später ist das Rettungsboot zu Wasser gelassen. Von seinem Bug aus haben zwei Matrosen mit langen Haken die Bluse von Marga zu fassen gekriegt und manövrieren jetzt den Körper zwischen den großen Eisschollen hindurch zum Boot. Sie trägt, was sie zum Abendessen trug, ihre weiße Jeans und das weiße Hemd darüber. Als sie nun an einem schweren Haken an Bord gezogen wird, breiten sich ihre Arme aus wie die einer Christusfigur. So wird sie geborgen. Bis zuletzt hat sich ihr Gesicht konzentriert von einem Punkt aus, der über ihrer Nasenwurzel lag.
Wir liegen im arktischen Eis, an Bord eine Tote. Die Behörden in Murmansk werden verständigt. Doch erst, als der Kapitän bezeugt, dass die Kabinentür der Toten von innen verschlossen war, dass also niemand an Bord sie ins Eis gestoßen haben kann, erhalten wir die Erlaubnis zur Weiterfahrt.
Die Reisenden stehen an Bord und fegen die Scherben ihrer Erinnerungsbilder zusammen. Was bisher wunderlich, was nach fixer Idee geklungen hatte, war nachträglich lesbar als eine lineare Bewegung in die Selbsttötung. Margas Leben lässt sich nur von seinem Ende aus, posthum in eine Ordnung bringen. All die kleinen Unverständlichkeiten und Verstörungen waren Stationen auf der Schussfahrt einer, der nicht zu helfen war und die man ja auch immer wieder hat »merkwürdig« an der Reling stehen und das Wasser betrachten sehen. Tage werden rekonstruiert, an denen niemand Marga gesehen, an denen sie wohl auch nur in der Kabine gesessen hatte – um was zu werden? Um abzuschließen, die Kraft zu finden?
Wohin mit den weichen, den ungeschützten Momenten? Da war dieses in Silber gearbeitete nackte Paar auf ihrem Ring. Als sie mir von Tel Aviv erzählt hatte, wo sie ihn erworben haben wollte, sagten ihre Augen, dass er ein Geschenk gewesen war, und während sie sprach, strich sie wirklich darüber und lächelte. Ein andermal hatten wir an der Reling gestanden. Sie versuchte sich mit ihrer kleinen Kamera hilflos an der Aussicht und hatte, den Apparat absetzend, gesagt:
»Die Enden der Welt eignen sich nicht fürs Hochformat.«
Ich hatte wissen wollen, ob ihr das Reisen so leicht vorkomme wie eh und je. Sie hatte anders geantwortet als erwartet und erklärt, sie reise wohl deshalb inzwischen schwerer, weil sie sich selbst die Frage nicht mehr so leicht beantworten könne, bei wem sie wohl ankomme und zu wem sie zurückkehre. Da waren zum ersten Mal Menschen in ihrer Antwort, aber als Fragwürdige.
Die Reisenden tauschen Erschütterungen aus. Eine Britin stößt unter Schluchzen immer nur hervor »not again«, »not again«. Wir werden erfahren, dass sie sich zum dritten Mal an Bord eines Schiffes befindet, das Passagiere auf die letzte Reise trägt. Eine andere Frau ist der Toten böse, dass sie überhaupt nicht an die Ferien der anderen gedacht hat:
»Da haben manche Jahre drauf gespart, und dann das!«
Ein Dritter überlegt:
»Noch heute Nachmittag haben wir zwei Männer gesehen, die ihr Leben riskierten am Pol, so vital waren sie, so abenteuerlich und lebensbejahend, und Stunden später geht eine von uns für immer ins Eis.«
Eine Vierte sagt ganz tonlos: »Das macht man nicht.«
Eine Fünfte gesteht:
»Ich weiß, es klingt furchtbar, aber für mich ist das das erste Highlight der Reise.«
Ein Sechster erklärt es zur staatsbürgerlichen Pflicht, sich jetzt die Reise nicht vermiesen zu lassen, und sucht gleich den Übergang zur Tagesordnung:
»Ich versteh ja jeden, der jetzt geschockt ist. Aber, Kinder, vergesst nicht: Sich jetzt nicht mit Sonnencreme einzuschmieren, das ist was für Selbstmörder.«
Zwei Reisende kommen und kondolieren mir stumm.
Eine Französin gibt die neue Linie vor: Marga sei erlöst worden, sie habe es hinter sich, wir sollten nun nicht länger um sie trauern.
»Sie hätte es so gewollt«, sagt sie. Aber eigentlich weiß niemand so genau, was sie gewollt hätte.
Vor dem Essen hält der Kapitän eine knappe Ansprache:
»Guten Abend, everybody.«
Man bedauere, mitteilen zu müssen, »Margarete« habe nur noch tot geborgen werden können. Über ihren Verbleib werde die Versicherung entscheiden. Man fliege sie jetzt mit einem Helikopter zu einem Lager auf
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