Die Enden der Welt
Viktor Boyarski einen Landgang, und wir taumeln wirklich das Fallreep hinunter, setzen unsere Füße in diesen Schnee, der aus der Nähe kein Schnee mehr ist, wie wir ihn kennen – er pappt nicht, seine Kristalle sind groß und gläsern, sie ballen sich zu Christbaumschmuck und zerfallen sofort. Das Schiff wird aus der Ferne fotografiert. Man tut ein paar Schritte nach rechts, nach links, in die Weite, danke – und jetzt? Was soll das? Es sieht doch alles gleich aus.
An Bord werden die Strategien des Protests besprochen. Man wird sich nicht abspeisen, nicht für dumm verkaufen lassen. Angesichts all der Dinge, die wir nicht erfahren, müssen wir vom Schlimmsten ausgehen: Abbruch der Reise, Rückführung, Regressforderungen.
Die Expeditionsleitung bittet um Geduld.
Es folgt der Versuch, die inzwischen reparierte Maschine anzuwerfen und das Schiff ein paar Meter rückwärts zu bewegen. Als das misslingt, werden wir in den Konferenzraum gebeten. Man erklärt, der Schaden sei größer als erwartet, die Weiterreise deshalb ungewiss. Tumulte folgen. Der völlig betrunkene Taiwanese stößt Warnungen aus, Warnungen vor einem Fluch, der auf dieser Reise von Anfang an … Der Mann wird niedergekämpft.
»Mit Ihrem Ferment im Bauch sollten Sie weniger trinken«, pöbelt jemand. »Sie vertragen es nicht!«
Die deutschen Männer wollen exakt wissen, worin der Schaden bestehe. Sie wollen Fakten, technische Daten, die sie dann erstens nicht glauben und mit denen sie zweitens nichts anfangen können. Anschließend kommentieren sie die Reparierbarkeit.
»Wenn so ein Getriebe bei fünfzig Prozent Leistung …«, hebt der Stuttgarter an.
»Das ist unmöglich!«, schreit ein Mann kreidebleich im Gesicht in den Raum. »Das
kann
man nicht reparieren!«
Er ist verzweifelt, wie nur Kinder verzweifelt sind: »Man
kann
nicht!«
Einer wirft dazwischen: »Jetzt habe ich ganz vergessen, den Schnee anzufühlen.«
Der Berliner schwadroniert von der »typisch russischen Informationspolitik«. Man erfahre ja nichts. Es sei wie immer in Russland: alles schön unter den Teppich kehren, dann ist es auch nicht passiert.
»Denken Sie nur an die Kursk, an Tschetschenien!«
Andere verlangen an Ort und Stelle ihr »Geld zurück«. Den Leiseren dagegen wird die Gesellschaft allmählich peinlich. Sie weichen an die Reling aus und lassen es sich nicht nehmen, das Extrem dieser Landschaft andauernd zu bestaunen. Hanni und Viktor lachen. Auch sie halten sich stundenlang auf dem obersten Deck auf, von wo der Blick jetzt, da das Schiff festliegt, ganz anders ins Rund geht, so als seien wir endlich nicht mehr Handelnde in dieser Landschaft, sondern Duldende und Geduldete.
Ob wir denn nicht wenigstens unser Geld zurückwollten, werden wir von einer Schmallippigen angeherrscht.
»Ach, wissen Sie«, sagt Hanni freundlich, »das Geld war mein Erbe. Davon wollten wir uns diesen Traum erfüllen, und ein Traum ist es geworden!«
Ihre unzerstörbare Begeisterung löst bei einigen moralische Empörung aus.
»Sie lassen sich auch alles gefallen, oder?«
Ob wir mal den Rost unter dem roten Anstrich gesehen hätten oder mal das Beiboot unter die Lupe genommen hätten. Der Helikopter sei ja auch nicht einsetzbar gewesen, und dass der Dr.Sowieso nun schon zwei Tage mit Magenverstimmung auf der Kabine bleiben müsse, das sei uns wohl ebenfalls entgangen. Unsere Nachgiebigkeit den äußeren Umständen gegenüber wird uns als Charakterschwäche vorgehalten, und wenn man könnte, würde man uns am liebsten mitverantwortlich machen. Dabei besteht unsere Schuld einzig darin, im Eis zu liegen und es zu mögen.
Auch zur Technik hat jeder eine Meinung. Das sei alles eine Scheiße, sagt einer, er habe es immer gewusst, immer habe er es gewusst. Nie werde es klappen, niemand von uns werde den Pol sehen, niemand jemals.
Vor allem aber hat jetzt die Stunde des Blockers geschlagen.
»Wichtig ist, dass wir mit einer Stimme sprechen«, sagt er und meint die seine. Dazu schickt er einen Blick von maligner Kraft in die Runde. Er sucht die Empörten zu scharen und sie gegen die Expeditionsleitung zu organisieren. Seine Widersacher sind die Schweizer und ein paar andere Enthusiasten, die gelassen an der Reling stehen, das stehende Schiff und die grandiose Aussicht in das große Schweigen genießen. Sie sind gar nicht mehr davon zu lösen und schwelgen im Reichtum der Monotonie.
Entsprechend sind sie es denn auch, die als Erste die Eisbärenmutter mit ihren zwei Jungen
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