Die englische Episode
in dieser Nacht war seine Ladung besonders schwer, weit schwerer als die Kisten mit den in Holland ohne Lizenz gedruckten Büchern für die Händler der Provinz. Spätestens bei Sonnenaufgang würde es entladen und fest vertäut am Steg der Pfarrei des Dorfes liegen, als habe es seit Tagen nichts anderes getan.
Hamburg 1770 im April
KAPITEL 1
Dieses Mal hatte der Tod sein Spiel verloren. Oder hatte er nur gnädig auf seine Beute verzichtet? Das glaubte sie nicht. Was sollte am Sterben eines Kindes Gnade bedeuten? Sie glaubte, dass der Tod mit dem Leben spielte. Ein unerbittliches Spiel, in dem die Rollen so ungerecht verteilt waren wie in keinem anderen.
Ein böiger Nordwest kam vom Fluss herauf, schärfte sich in den engen Straßen und durchdrang die dicke Wolle ihres Schultertuches. Auch in der Kirche hatte sie gefroren, die Mauern von St. Michaelis hielten die Kälte der langen Wintermonate oft bis weit in den Sommer hinein, sie war froh gewesen, dass Merthe darauf bestanden hatte, ihr den heißen Stein mitzugeben.
Der lag nun erkaltet in ihrer Tasche, aber immerhin waren ihre Füße warm.
‹Du darfst nicht krank werden›, hatte Merthe gesagt und wie immer Recht gehabt, als sie streng hinzufügte: ‹Du siehst aus, als könnte dich ein Mückenstich umbringen.› Sicher hatte Merthe auch Recht gehabt, als sie entschieden gegen den Besuch der Morgenandacht protestierte: ‹Du brauchst keine kalte Kirchenbank, sondern Schlaf. Geh endlich ins Bett, es wird Gott nicht stören, wenn du deine Gebete unter einer warmen Decke sprichst.›
«Guten Morgen, Madame Boehlich. So früh schon unterwegs? Aber daran tut Ihr recht. Es ist ein herrlicher Morgen, für Mitte April sogar wahrhaft herrlich. Geht es Onne besser?»
Luise Boehlich blieb stehen und schlug ihr Tuch aus der Stirn zurück. Sie war rasch den seit Jahren vertrauten Weg gegangen und hatte nicht bemerkt, dass sie schon den Großneumarkt erreicht hatte. Schröder, der Bäcker aus dem Valentinskamp, stand vor ihr und sah sie freundlich an. Wieder zerrte eine Bö an ihrem Tuch und an ihren Röcken, doch nun fühlte sie die Kälte nicht mehr. Seit Tagen hatte sie ihr Haus nicht verlassen, seit Tagen mit niemandem gesprochen als mit Merthe und dem Arzt, seit Tagen hatte sie nichts gesehen als deren sorgenvolle Mienen und das fiebernde Gesicht ihres Sohnes. Die gesunde Pausbackigkeit des Bäckers, der süße Duft aus seinem Korb, die Spuren von Mehl auf seiner Schürze erschienen ihr wie die Verheißung von neuem Leben, von Wärme und Alltäglichkeit. Von Glück, dachte sie und fühlte dankbar, wie leicht Glück aus einer Kleinigkeit erwachsen kann.
«Danke, Meister Schröder, ja, es geht Onne endlich besser. Das Fieber ist gesunken und Dr. Reimarus hat uns versichert, dass es nun überstanden ist.»
Sie wollte lächeln, doch ein Schluchzen stieg in ihrer Kehle auf, und sie wischte sich hastig mit ihrem Ärmel über das Gesicht. «Wie dumm von mir, jetzt noch zu weinen», sagte sie und versuchte wieder ein Lächeln.
«Seid froh, wenn Ihr Grund habt, aus Freude zu weinen», sagte der Bäcker, hob das Leintuch von seinem Korb, griff nach kurzer Auswahl ein süßes, zuckerbestäubtes Brötchen und überreichte es Madame Boehlich, als seies eine duftende Rose. «Nach diesem harten Jahr. Aber nun», er schob das rundliche Kinn vor und sah zum Himmel hinauf, «kommt die Sonne durch die Wolken. Glaubt mir, wenn der Sommer anfängt, wird alles besser. Die Wärme und das Licht machen Euren Sohn im Handumdrehen gesund. Und bald», fügte er nach kurzem Zögern hinzu, als habe er nach etwas besonders Tröstlichem gesucht, «kommt der Mai und dann …»
«Im Juni», widersprach sie hastig, «ganz gewiss nicht vor Juni. Vielleicht erst im Juli. Es ist noch so viel zu tun im Haus und in der Druckerei, das Auftragsbuch ist voll.»
Sie biss in das süß duftende Brötchen, nickte dem Bäcker einen Dank zu und eilte davon.
Meister Schröder sah ihr verdutzt nach, breitete achselzuckend das Tuch wieder über den Korb und setzte seinen Weg fort. Er mochte Madame Boehlich, alle mochten sie. Seit sie vor einem knappen Jahr Witwe geworden war und selbst die Boehlich’sche Druckerei am Valentinskamp führte, manche fanden sogar besser als Abraham, versagte ihr erst recht niemand den Respekt. Boehlich war fleißig und honorig gewesen, allem Neuen gegenüber jedoch mehr als misstrauisch. Doch die Zeiten waren nun mal so, dass es ständig Neues gab, und wer im Geschäft
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