Die englische Episode
suchenden Blick die Straße hinunter, vergeblich, von dem dringend erwarteten Bräutigam war weit und breit nichts zu sehen, und ging zurück in die Kirche.
Karla hatte sich inzwischen von Madame Augusta überzeugen lassen, dass eine vor Kälte zitternde rotnasige Braut weder die heilige Handlung noch das anschließende Fest schmückte. Sie saß immer noch still, doch endlich in ein wärmendes Tuch gehüllt in der ersten Reihe. Auch die anderen Gäste saßen noch in den Bänken, aber der Pegel ihrer Stimmen war erheblich gestiegen. Helena Becker, deren kastanienbraune Locken im Licht, das durch die alten Kirchenfenster fiel, schillerten, schwatzte munter mit Madame Augusta, der vornehmen alten Dame aus dem Handelshaus Herrmanns und Spenderin des Hochzeitskleides. Titus, der grimmige Spaßmacher der Becker’schen Gesellschaft, hielt ein gerade konfisziertes Kartenspiel in der breiten Faust und erläuterte mit nicht unbedingt christlichen Worten den beiden jugendlichen Komödianten Fritz und Muto, dass es nicht angehe, sich in einer Kirche beim sündigen Kartenspiel erwischen zu lassen. Titus war immer nah am praktischen Leben.
Proovt, der wie immer elegante Polizeimeister von Altona,erst seit dem letzten Jahr mit dem Bräutigam freundschaftlich verbunden, lauschte mit höflich zugeneigtem Kopf einer in fein gesetzten Worten geführten Debatte zwischen Madame Matti und Domina van Dorting, der ehrfurchtgebietenden ersten Frau des Damenstifts im Kloster St. Johannis. Ausnahmsweise ging es nicht um Mattis Heilkräutergarten, sondern um die Notwendigkeit von Reinlichkeit bei der Geburtshilfe. Rosina hatte nicht gedacht, dass sich eine Dame aus gutem hanseatischem Haus, die zudem den Titel Ehrwürdige Jungfrau trug, in solcherlei unfeinen Themen versiert zeigte.
Dann war da noch Jakob Jakobsen, der Wirt des
Bremer Schlüssel
. Er saß in der dritten Bank inmitten einiger seiner Stammgäste, zu denen auch der Bräutigam gehörte, und erläuterte sein Hochzeitsgeschenk, nämlich die Speisefolge des zweiten Frühstücks, das alle nach der Trauung in seinem Gasthaus erwartete. Es klang köstlich, und Rosina fiel ein, dass sie an diesem Morgen noch nichts gegessen hatte.
Nur zwei Menschen saßen still und geduldig, wie es sich gehörte, in der vorletzten Bank. Rudolf, der Kulissenmaler und Baumeister der Becker’schen Gesellschaft, und Gesine, die Kostümmeisterin. Beide in schlichtem dunkelgrauem, nur mit kleinen weißen Kragen geschmücktem Tuch. Sie glichen so gar nicht den Vorstellungen der Bürger von vermeintlich sündigen Wanderkomödianten. Die Köpfe in einträchtigem Schweigen gesenkt, waren sie das Abbild eines frommen Ehepaares.
Fehlte nur noch Manon, ihre Tochter. Rosina entdeckte das Mädchen in einer jener Seitenkapellen, in denen Buchhändler Stände aufgeschlagen und ihre gedruckte Ware unter großen Tüchern verborgen hatten. Seit demletzten Winter zeigte Manon eine leidenschaftliche Liebe für diese neuen Romane um tragisch liebende Edelfräulein. Rosina hoffte still, sie werde der Versuchung, ein Exemplar ‹auszuborgen›, widerstehen.
Das Geräusch des Kirchenportals ließ sie herumfahren. Endlich, dachte sie aufseufzend. Aber nicht der Bräutigam betrat die Kirche, sondern ein um einige Jahre jüngerer Mann. Er trug einen ärmlichen schwarzen Rock, und seine Schuhe sahen aus, als sei er darin von Rom an die Elbe gewandert. Rosina konnte sich nicht erinnern, ihn je zuvor gesehen zu haben.
Sie glitt neben Madame Augusta in die Bank und fragte flüsternd, ob sie den Neuankömmling kenne.
«Nein», flüsterte Augusta zurück. «Ich glaube nicht. Obwohl ich manchmal Gesichter vergesse. Vielleicht ist er ein Reisender und erwartet hier einen Gottesdienst. Oder unser Bräutigam hat ihn vorm Galgen errettet, danach sieht er eher aus, und er will ihm an diesem Freudentag seine Reverenz erweisen. Wenn es denn ein Freudentag wird», fügte sie hinzu und zog mit vergnügtem Spott die Nase kraus, «eine Hochzeit ohne …»
Da scharrte wieder die Kirchentür und Jean trat ein, eilte mit langen Schritten zur Barbara-Kapelle, gefolgt von dem vermissten Bräutigam, dessen etwas kurz geratene Beine kaum mit den langen des Prinzipals Schritt halten konnten.
«Du meine Güte», flüsterte Madame Augusta amüsiert, «was hat er mit seinen Strümpfen gemacht? Den Boden aufgewischt? Nun gut, die Hauptsache, er ist endlich da.»
Ein Aufatmen ging durch die Reihen der Hochzeitsgäste, alle setzten sich aufrecht,
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