Die Nadel.
VORWORT
u Beginn des Kriegsjahres
1944 stellte der deutsche Geheimdienst Beweismaterial für die Anwesenheit einer riesigen
Armee im Südosten Englands zusammen.
Aufklärungsflugzeuge brachten Photographien von
Kasernen und Flugplätzen sowie von Schiffsflotten in The Wash zurück; General George
S. Patton wurde gesichtet, wie er in seiner unverwechselbaren blaßroten Reiterhose seine
weiße Bulldogge ausführte; es gab immer wieder regen Funkverkehr zwischen Einheiten, die in
der Gegend stationiert waren; deutsche Spione in Großbritannien bestätigten die Vorgänge in
ihren Berichten.
Natürlich gab es keine Armee. Die Schiffe waren Nachbildungen aus
Gummi und Holz; die Kasernen waren reine Filmkulisse; die Funksignale waren ohne Bedeutung;
die Spione waren Doppelagenten.
Der Feind sollte fälschlicherweise glauben, die
Landung erfolge im Pas de Calais, damit die Landung in der Normandie am D-Day als
Überraschungscoup gelingen konnte.
Es war ein gewaltiges, fast unmögliches
Täuschungsmanöver. Tausende von Menschen waren an dessen Durchführung beteiligt. Es wäre
ein Wunder gewesen, wenn keiner von Hitlers Spionen je davon erfahren hätte.
Gab es
überhaupt Spione? Damals glaubten die Engländer, von Mitgliedern der sogenannten Fünften
Kolonne umgeben zu sein. Nach dem Krieg entstand der Mythos, der englische Geheimdienst MI5
habe bis Weihnachten 1939 alle fassen können. In Wahrheit scheint es nur sehr wenige gegeben
zu haben, und der MI5 enttarnte fast alle.
Aber einer genügt schon . . .
Wir
wissen, daß die Deutschen in Südostengland das sahen, was sie sehen sollten; daß sie einen
Trick vermuteten und daß sie sich sehr bemühten, die Wahrheit herauszufinden.Soweit ist alles Geschichte. Was folgt, ist frei erfunden. Aber ich glaube, so
ähnlich ist es geschehen . . .
Camberley, Surrey Juni 1977
Fast alle Deutschen wurden getäuscht – nur Hitler hatte eine richtige
Vermutung, zögerte aber, ihr gemäß zu handeln.
A. J. P. Taylor
English History 1914– 1945
ERSTER TEIL – KAPITEL 1
s war der kälteste Winter
seit fünfundvierzig Jahren. Die Dörfer waren eingeschneit, und die Themse war zugefroren. An
einem Tag im Januar verspätete sich der Zug von Glasgow nach London sogar um 24 Stunden. Der
Schnee und die Verdunklung ließen das Autofahren immer gefährlicher werden: Die Zahl der
Unfälle verdoppelte sich, und die Menschen erzählten sich Witze darüber, daß es
gefährlicher sei, mit einem Austin Seven nachts durch Picadilly zu fahren, als mit
einem Panzer durch den Westwall zu stoßen.
Als der Frühling endlich kam, war es
herrlich. Sperrballons trieben majestätisch am hellen, blauen Himmel, und Soldaten auf
Heimaturlaub flirteten mit Mädchen in ärmellosen Kleidern auf den Straßen von London.
London wirkte kaum wie die Hauptstadt eines Landes, das sich im Krieg
befand. Natürlich gab es Anzeichen dafür. Henry Faber, der mit dem Rad von Waterloo Station
nach Highgate fuhr, bemerkte sie: Haufen von Sandsäcken vor wichtigen öffentlichen
Gebäuden, Anderson-Schutzräume in den Gärten der Vorstädte, Propagandaplakate über
Evakuierung und Luftschutz. Faber fielen diese Dinge auf – er war weit aufmerksamer als ein
durchschnittlicher Eisenbahnangestellter. Er sah Scharen von Kindern in den Parks und schloß
daraus, daß die Landverschickung ein Fehlschlag gewesen war. Ihm entging nicht die Zahl der
Autos, die trotz der Benzinrationierung auf der Straße fuhren, und er las, welche neuen
Modelle die Autofirmen ankündigten. Faber wußte, was es bedeutete, daß Arbeiter zur
Nachtschicht in die Fabriken strömten, in denen wenige Monate zuvor die Tagschicht kaum genug
zu tun gehabt hatte. Vor allem beobachtete er die Truppenverschiebungen per Eisenbahn: Alle
Papiere gingen über sein Büro. Daraus ließ sich eine Menge erfahren. Heute hatte er zum
Beispiel einen Stoß Formulare abgestempelt,die ihn vermuten ließen, daß
eine neue Expeditionsstreitmacht zusammengezogen wurde. Er war sich recht sicher, daß sie
aus rund hunderttausend Mann bestehen und für Finnland bestimmt sein würde.
Es gab
Anzeichen, ja, aber das Ganze hatte etwas Komisches an sich. Im Radio machte man sich über
den Bürokratismus der Kriegsverordnungen lustig, in den Luftschutzbunkern wurde gemeinsam
gesungen, und modebewußte Frauen trugen ihre Gasmasken in eigens von Modeschöpfern
entworfenen Behältern. Man
Weitere Kostenlose Bücher