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Die englische Episode

Die englische Episode

Titel: Die englische Episode Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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sei eben doch ein kräftiger kleiner Kerl, hatte der Arzt im Morgengrauen gesagt. Plötzlich fror sie wieder. Und wenn der Arzt sich irrte? Was war womöglich geschehen in dieser einen kurzen Stunde, die sie fort gewesen war? Wer wusste besser als sie, die ehrbare Madame Boehlich, was eine kurze Stunde bedeuten konnte, wie schnell ein ganzes Leben durcheinander gewirbelt wurde? Rasch warf sie den letzten Brocken des Brötchens den Hühnern zu, wischte sich den Zucker von den Lippen, lief die letzten Schritte bis zu ihrem Haus, dem drittletzten, bevor sich die Straße zum Gänsemarkt weitete, und schob das Hoftor auf.
    «Da bist du ja endlich.» Am zweiten Fenster im ersten Stock stand Merthe, bleich wie immer, ganz in Schwarz wie immer, mit strengem Gesicht. Während der ersten Jahre ihrer Ehe hatte Abrahams Schwester ihr Furcht eingeflößt. Inzwischen, ganz besonders im letzten Jahr, hatte sie gelernt, hinter ihre Fassade zu sehen. Merthe mochte es an Zärtlichkeit fehlen, gewiss auch an Frohmut, an Leichtigkeit, aber ihre Zuverlässigkeit bedeutete Sicherheit,und sie hatte nie versucht, die so viel jüngere zweite Frau ihres Bruders zur Seite zu drängen, was ihr gewiss nicht immer leicht gefallen war. Für die Kinder, die sie auf ihre spröde Art liebte, war ihre Strenge zweifellos ein guter Ausgleich zu Luises allzu großer Nachgiebigkeit.
    «Er ist wach», rief Merthe in den Hof hinunter, «komm schnell herauf. Bring frisches Wasser aus der Küchentonne mit, ich will ihn waschen. Und pass auf, dass die Hunde draußen bleiben.»
    Die Hunde, zwei dünne weißbraune Zottelgeschöpfe, lagen seit Tagen vor Onnes Tür und warteten auf Einlass.
    «Morgen», murmelte Luise, als sie sich mit der Waschschüssel an ihnen vorbeidrängte, «morgen dürft ihr ihn besuchen.»
    Onne lag gegen zwei dicke Kissen gestützt in seinem Bett, das Gesicht unter dem vom Fieberschweiß dunklen honigblonden Haar bleich wie die Laken, und lächelte seiner Mutter entgegen. Seine Augen blickten müde, aber klar, der Fieberglanz war verschwunden.
    «War es schön in der Kirche, Mama?», fragte er heiser, und Luise stellte zitternd die Schüssel auf den Tisch am Fenster. Sie küsste ihren Sohn und fühlte wieder dieses erdrückende Gefühl der Schuld.
    «Und nun geh endlich schlafen», knurrte Merthe, «oder soll ich morgen zwei Kranke pflegen?»
    «Ach Merthe», Luise zog Onnes Decke bis an sein Kinn, strich noch einmal über seine Wangen und stand auf, «was täten wir ohne dich?»
    Merthe antwortete nicht. Sie beugte sich über die Truhe, suchte nach frischen Laken und tat, als habe sie nichts gehört. Dankbar sah Luise auf den hageren Rücken. Merthe wirkte oft barsch, doch nur wer sie wenigkannte, hielt sie für die kalte Frau, als die sie sich gab. Plötzlich fühlte Luise die Müdigkeit der durchwachten Nächte wie schwere Hände auf ihren Schultern und wusste, dass Abrahams Schwester wieder einmal Recht hatte. Noch einmal küsste sie Onne, flüsterte ihm zu, er solle sich nun gesund schlafen, Merthe werde auf ihn Acht geben, und verließ das Zimmer.
    Am Fuß der Treppe zog sie Abrahams Taschenuhr hervor, noch zehn Minuten bis zum Arbeitsbeginn. Die Drucker und Setzer, die Korrektoren, Gehilfen und der Lehrjunge würden gleich kommen. Auch Kloth, der Faktor, der ihnen am Morgen die Tür aufschloss.
    Seit Abrahams Tod begann Luise Boehlich ihren Arbeitstag mit einem Gang durch die Druckerei. Sie liebte dieses Ritual, liebte den herben Geruch der Druckerschwärze, den feineren des Papiers. Sie liebte auch die Geräusche: das leise Klicken der Bleilettern, wenn die Setzer sie in den Winkelhaken zu Wörtern und Zeilen zusammenfügten, das Scharren, wenn die Drucker den Karren mit dem Schriftsatz unter die Presse fuhren, das sanfte Quietschen des Bengels, des armlangen Hebels für die schwere Platte, die den Deckel mit dem Papierbogen auf den geschwärzten Schriftsatz presste. In ihrem Ohr hatte jede Presse ein eigenes Geräusch. Sie habe ein zu phantasievolles Gehör, hatte Abraham gesagt, Presse sei Presse. Aber er hatte dabei gelächelt. Er, der Nüchterne, hatte ihre lebendige Phantasie oft belächelt, doch er hatte sie auch gemocht. Egal, was in den letzten Monaten geschehen war, immer noch vermisste sie ihren Mann schmerzlich.
    Seit Tagen war sie nicht mehr in der Druckerei gewesen, seit Onne um sein Leben kämpfte, hatte sie nichteinmal daran gedacht. Wenn sie nun nicht länger herumstand und sentimentalen Gedanken nachhing, hatte

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