Die englische Freundin
schwankenden Deck fand sie einfach nicht in den gleichmäÃigen Rhythmus, der ihr die schnurgeraden, winzigen Stiche ermöglichte, die ihr Markenzeichen waren. Selbst der anspruchslose Arbeitsschritt, die Stoffsechsecke mit losen Stichen auf die Papierschablonen zu heften â das Erste, was Honor als kleines Mädchen gelernt hatte â, erforderte mehr Konzentration, als sie aufbringen konnte. Bald wurde Honor klar, dass in jedem Stoff, mit dem sie jetzt arbeitete, für alle Zeiten der Geruch ihrer Seekrankheit hängen würde, oder zumindest die Erinnerung daran, was mehr oder weniger dasselbe war. Ein paar Tage lang mühte sie sich noch erfolglos mit den Rosetten ab, doch dann warf Honor sie einfach über Bord. Beim Anblick der Stoffstücke würde ihr später nur wieder übel werden. Es war natürlich eine entsetzliche Verschwendung von wertvollem Material, zumal sie die fertigen Formen auch Grace oder einer anderen Frau an Bord hätte geben können, doch sie schämte sich für den Geruch, der an ihnen haftete, und sie schämte sich für ihre Schwäche. Als sie die Stofffetzen ins Wasser flattern und in den Wellen verschwinden sah, hatte Honor einen Moment lang das Gefühl, dass ihr Magen sich beruhigte.
»Schauen Sie auf den Horizont«, riet ihr eines Tages ein Matrose, der ihr trockenes Würgen mitbekam. »Stellen Sie sich in den Bug und richten Sie den Blick fest nach vorn. Achten Sie nicht auf das StoÃen und Stampfen, das Rollen und Schaukeln. Einfach nur ganz still stehen und nach vorne schauen. Dann wird sich Ihr Magen beruhigen.«
Honor nickte, obwohl sie wusste, dass es nicht helfen würde, denn sie hatte es längst ausprobiert. Sie hatte alles versucht, was man ihr empfahl: Ingwer, eine heiÃe Wärmflasche an den FüÃen, einen Eisbeutel um den Hals. Den Matrosen aber beobachtete sie weiter aus den Augenwinkeln. Noch nie zuvor hatte sie einen Schwarzen aus der Nähe gesehen, denn in Bridport gab es keine. Bei einem Besuch in Bristol war zwar einmal ein schwarzer Kutscher an ihr vorbeigefahren, doch noch bevor sie richtig hinschauen konnte, war er schon wieder aus ihrem Blickfeld verschwunden gewesen. Honor musterte die Haut des Mannes: Sie hatte die Farbe einer Rosskastanie, nur dass sie eher rau und windgegerbt als glatt und glänzend war. Vor ihrem inneren Auge stieg das Bild eines Apfels auf, der im Unterschied zu seinen blassgrünen Nachbarn am Baum als Einziger tiefrote Backen hatte. Der Akzent des Mannes lieà sich nicht einordnen, er konnte von überall und nirgends stammen.
Der Matrose musterte Honor ebenfalls. Vielleicht war eine Quäkerin etwas Neues für ihn, oder er war neugierig, wie ihr Gesicht aussah, wenn es nicht von Ãbelkeit verzerrt war. Normalerweise war Honors Stirn glatt und wurde nur von den Brauen unterbrochen, die sich wie Flügel über die groÃen grauen Augen schwangen. Doch die Seekrankheit hatte Linien eingegraben, wo früher keine waren, und der stillen Schönheit ihres Gesichts etwas Verhärmtes gegeben.
»Der Himmel ist so gewaltig, dass er mir Angst macht.« Ihre Worte überraschten sie selbst.
»Da sollten Sie sich besser dran gewöhnen, denn da, wo Sie hinfahren, ist alles gewaltig. Was wollen Sie überhaupt in Amerika? Sich einen Ehemann angeln? Sind Ihnen die Engländer nicht gut genug?«
Nein, dachte sie, das sind sie nicht. »Ich begleite meine Schwester«, antwortete sie. »Sie heiratet einen Mann in Ohio.«
»Ohio!«, schnaubte der Matrose. »Bleiben Sie lieber an der Küste. Man sollte nirgendwohin, wo man das Meer nicht riechen kann, sage ich immer. Da drauÃen in den riesigen Wäldern werden Sie nur versauern. Oh je, schon wieder.« Er trat zurück, als Honor sich erneut über die Reling beugte.
Der Kapitän der Adventurer sagte, es sei eine der ruhigsten und schnellsten Atlantiküberquerungen gewesen, die er jemals erlebt habe. Diese Aussage quälte Honor nur noch mehr. Nach dreiÃig Tagen auf See stolperte sie ausgezehrt und dünn wie ein Skelett auf das Dock in New York. Sie hatte das Gefühl, ihr gesamtes Inneres erbrochen zu haben, sodass nur noch ihre äuÃere Hülle übrig geblieben war. Und dann stellte sie voller Entsetzen fest, dass der Boden des Docks genauso unter ihren FüÃen schwankte wie das Schiffsdeck. Sie übergab sich ein letztes Mal.
Jetzt wusste Honor, dass sie auch
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