Die Entfuehrten
. ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe, jedenfalls habe ich dann gesagt: ›Das stimmt doch, Dad? Ich bin nicht adoptiert worden, oder?‹ Und dann hat er gesagt . . . mein Vater hat gesagt . . .«
Chip bewegte den Mund, aber es kam kein Ton heraus. Es war, als seien ihm die Worte ausgegangen. Zumindest die Worte, die er hatte aussprechen wollen.
Jonas erstarrte, saß kerzengerade mitten auf dem Bett.
»Was hat dein Dad gesagt?«, fragte er vorsichtig.
Chip starrte mit leerem Blick vor sich hin.
»Bist du
auch
adoptiert worden?«, flüsterte Jonas.
Chip nickte stumm.
Drei
»Warum hast du mir das heute Nachmittag nicht gesagt?«, fragte Jonas. Er kam sich ein wenig albern vor. Es war wie damals, als er zur Schwimmmannschaft gehörte und einige seiner Freunde seine Klamotten versteckt hatten. Er musste mit nichts als einer Badehose am Leib durch das ganze Sportzentrum laufen, während alle anderen vollständig angezogen waren. »Ich habe dir erzählt, dass ich adoptiert worden bin – warum hast du nichts gesagt?«
»Weil ich keine Ahnung hatte!«, fuhr Chip auf. Er war ganz rot im Gesicht. »Meine Eltern haben mir nie etwas davon erzählt! Ich habe immer gedacht, sie wären meine echten Eltern.«
»Das sind sie immer noch«, korrigierte ihn Jonas automatisch.
»Das sind sie nicht!«, sagte Chip wütend. »Für mich sind es jetzt fremde Leute! Wie konnten sie mir das nur verschweigen?«
Das war keine Frage, die Jonas beantworten konnte. Er hatte irgendwann aufgehört, die ganzen kindertauglichenBücher à la »Ist es nicht schön, adoptiert zu sein?!« zu lesen, die seine Eltern für ihn gekauft hatten. Stattdessen hatte er angefangen, in den Büchern herumzustöbern, die sie im Regal stehen hatten:
Das ausgeglichene Adoptivkind, Umgang mit Pflege- und Adoptivkindern, Adoption ohne Geheimnisse
. Sämtliche Adoptionsbücher, die Jonas je zu Gesicht bekommen hatte, taten, als gäbe es ein Gebot, das Moses vergessen hatte vom Berg Sinai mit herunterzubringen: Du sollst Adoptivkindern die Wahrheit sagen.
Wieder fuhr sich Chip heftig durch die Haare. Wenn er so weitermachte, würde er sie sich noch alle ausreißen.
»Hör auf damit«, sagte Jonas. »Deine Eltern waren wahrscheinlich überzeugt, das Richtige zu tun.«
Chip lachte bitter.
»Ja – das Richtige für sich selbst.« Er sprang so heftig auf, dass der Schreibtischstuhl rückwärts umfiel. »Das sieht ihnen ähnlich. Immer tun sie so, als wäre alles
normal
, alles
in Ordnung
: ›Nein, Chip, du hast gestern Nacht niemanden schreien hören. Dein Vater und ich streiten uns nie . . .‹«
»Adoptionen
sind
normal«, sagte Jonas steif. »Sie sind seit Jahrhunderten Teil der menschlichen Gesellschaft.«
Chip warf ihm einen genervten Blick zu und begann auf und ab zu marschieren.
Als er zur Zimmertür kam, schlug er mit den Fäustendagegen. Dann legte er die Stirn auf die Fäuste und blieb einfach so stehen.
»Chip?«, sagte Jonas nervös. »Alles klar bei dir?«
»Weißt du, was komisch ist?«, sagte Chip mit seltsamer Stimme und ohne den Kopf zu heben. »Irgendwie ist es erleichternd . . . nicht mit ihnen verwandt zu sein. Ich will sowieso nicht werden wie sie. Aber wer bin ich wirklich? Wer sind meine echten Eltern?«
»Leibliche Eltern«, sagte Jonas leise, »es heißt ›leibliche Eltern‹.«
Chip ließ den Kopf auf die Seite fallen.
»Kannst du das bitte sein lassen?«, sagte er. »Es klingt, als hättest du eine Gehirnwäsche hinter dir.«
»Was?«, sagte Jonas abwehrend. »Das sind nun mal die korrekten Ausdrücke. Leibliche Eltern sind die, die dich zur Welt bringen. Und echte Eltern sind die, die deine Windeln wechseln; die mitten in der Nacht aufstehen, solange du ein kleines Baby bist, und dir zeigen, wie man ohne Stützräder Fahrrad fährt, und . . . und . . .« Er brach ab, weil er das Gefühl hatte, vielleicht wortwörtlich aus dem Buch
Umgang mit Pflege- und Adoptivkindern
zu zitieren.
Chip ließ sich zu Boden sinken, er sackte in sich zusammen wie eine der Stoffpuppen, die Katherine früher immer an den Beinen durch die Gegend geschleppt hatte.
»Meine Eltern haben mir nicht beigebracht, wieman Fahrrad fährt«, sagte er. »Das haben sie der Babysitterin überlassen.«
Jonas dachte einen Augenblick nach.
»Na, immerhin waren sie es, die die Babysitterin bezahlt haben.«
Chip stöhnte. Er ballte die Hände zu Fäusten und drückte sie auf die Augen.
»Warum?«, flüsterte er. »Warum haben meine echten Eltern
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