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Die Entscheidung der Hebamme

Die Entscheidung der Hebamme

Titel: Die Entscheidung der Hebamme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Ebert
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Kirche zu begleiten. Überaus erleichtert darüber, dass er nicht ins Kloster musste, wollte der Sohn des Markgrafen vor der Abreise eine Kerze stiften und ein Dankgebet sprechen.
    Bevor sie den Dom betraten, hielt Dietrich kurz inne und verteilte sämtliche Münzen aus seinem Beutel an die Bettler, die vor dem Eingang warteten und sich nun begierig auf die Almosen stürzten. Nur das Geld für eine Kerze behielt er übrig. »Ich hab’s geschworen, wenn mein Vater mich nicht ins Kloster schickt«, erklärte er Christian.
    Marthe folgte ihnen in den gewaltigen Magdeburger Dom, dessen Größe und Pracht sie jedes Mal aufs Neue sprachlos machte. Sie wollte für ihre glückliche Heimkehr beten und dafür, dass sie alle im Dorf Daheimgebliebenen wohlauf vorfanden, ganz besonders ihre Kinder und Stiefkinder.
    Als sie wieder hinausging, wurde sie erneut von den Bettlern und Krüppeln bedrängt, die vor dem Tor auf mildtätig gestimmte Kirchgänger warteten und anhand Marthes Kleidung auf reichlich Almosen hofften. Sie warf ein paar Hälflinge in die Menge und wandte sich dann einer Geblendeten zu, deren Anblick schon beim Hineingehen ihr Mitleid erregt hatte. Jetzt sah sie, dass die Frau viel jünger war, als sie anfangs gedacht hatte, ungefähr so alt wie sie selbst, nur furchtbar verhärmt und abgemagert. In ihrem einst sicherlich hübschen Gesicht zogen die scheußlichen, nässenden Brandwunden alle Aufmerksamkeit auf sich. Die ausgemergelte Gestalt saß etwas abseits der Bettler, die sich um die Münzen prügelten, und drehte nur den Kopf in die Richtung, aus der der Lärm kam. Marthe ging zu ihr und drückte ihr einen Pfennig in die schmutzige Hand, auch wenn sie argwöhnte, dass dies der Geblendeten nicht viel nutzen würde. Wem immer die junge, verstümmelte Frau das Geld gab, damit er ihr etwas Brot kaufte, der würde es wohl nehmen und auf Nimmerwiedersehen verschwinden.
    Dennoch küsste die Bettlerin fassungslos vor Glück ihre Hand. »Gott segne Euch«, stammelte sie, während Tränen aus den leeren Augenhöhlen liefen.
    Marthe schauderte. Was mochte sie getan haben, um so grausam bestraft zu werden?
    »Hast du niemanden, der sich um dich kümmert?«, fragte sie. Die Geblendete schüttelte den Kopf. »Sie haben mich verstoßen. Aber ich bin unschuldig, ich schwöre es Euch bei allen Heiligen, hohe Frau!«
    Das Schluchzen wurde immer heftiger. »Sie haben behauptet, ich hätte den bösen Blick und würde das Vieh krank machen und die Männer behexen. Aber das ist nicht wahr!«
    Marthe schauderte. Nur ein grausamer Mensch konnte behaupten, die Frau hätte noch Glück gehabt, dass sie nicht verbrannt worden war. Blenden war ebenso ein Todesurteil, nur dass sich das Sterben länger hinzog. Mit blinden Bettlern wurden grausamste Späße getrieben, und selbst wenn ihnen ein barmherziger Mensch Geld oder Essen gab, nahm ihnen das meistens auf der Stelle jemand wieder weg. Diese Unglückliche würde früher oder später elendiglich verhungern oder erschlagen werden.
    Doch niemand wusste besser als Marthe, wie leicht jemand zu Unrecht der Hexerei beschuldigt werden konnte – zumeist aus Missgunst oder Eifersucht.
    »Warte hier. Ich schicke jemanden, der dir etwas zu essen bringt.«
    Unter den inbrünstigen Dankesrufen der Geblendeten beauftragte sie die Magd, die sie begleitet hatte, bei den nahen Brotbänken einen Laib Brot zu kaufen, und schärfte ihr ausdrücklich ein, diesen der Verstümmelten und niemandem sonst in die Hand zu drücken.
    Dann ging sie fort, ein paar Schritte Richtung Elbe, und mit jedem Schritt wurde das Grauen größer, das sie zu erfüllen begann. Doch sie war entschlossen, ihr Vorhaben zu Ende zu bringen. Sie musste sich den Dämonen der Vergangenheit stellen, um sie endlich abzuschütteln.
     
    Als Marthe das zu ihren Füßen dahinströmende Wasser sah, zwang sie sich, stehen zu bleiben, statt fortzurennen, und den Blick nicht abzuwenden.
    Anstelle des Weihrauchdufts in der Kirche drang nun der beißende Gestank des Abfalls zu ihr, der ans Ufer gespült worden war und in der Sommerhitze vor sich hin moderte.
    Wie viel Zeit mochte vergangen sein, seit sich jene strudelnden, bräunlich trüben Wassermassen an Meißen vorbeigewälzt hatten?
    Schlagartig wurde in ihrer Vorstellung die Silhouette Magdeburgs durch die Meißens ersetzt, und sie sah sich erneut inmitten einer Szene, die auch nach fünf Jahren noch in der Erinnerung schauderndes Entsetzen in ihr auslöste: Halbnackt und blutig

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