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Die irische Meerjungfrau

Die irische Meerjungfrau

Titel: Die irische Meerjungfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carolin Roemer
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Prolog
    Die lange farblose Kutte des Alten war voller mottenzerfressener Löcher. Sie flatterte im Wind und folgte dabei einem ganz eigenen Rhythmus. Der grobgewebte Stoff schien zu atmen, als ob außer dem klapprigen Knochengestell noch etwas anderes darin hauste und sich ganz offensichtlich wohlfühlte. Eine dürre, fast fleischlose Hand ragte aus dem ausgefransten Ärmel, die Haut, die sich über die Knöchel spannte, schimmerte wachsfarben und brüchig wie altes Pergament, blaue Adern liefen über sie hinweg wie Priele über einen Strand. Fingernägel gleich Tierklauen umklammerten einen langen, geschnitzten Gehstock. Mühsam hob er den schmutzstarren Saum, um vorsichtig einen Fuß vor den anderen zu setzen. Er trug Sandalen, das Leder dünn und abgewetzt, und doch war jeder Schritt, als hätte er eiserne Ketten an den Füßen.
    Das Auffälligste an dem Alten aber war sein Bart. Eine verfilzte und verschimmelte Matte reichte ihm fast bis zu den Knien herab, vielleicht auch nur bis zu seinem Hintern, die gebückte Haltung verfälschte die Erscheinung. Im haarigen Gestrüpp wimmelten Essensreste wie hilflose kleine Fische in einem Netz. Als hätte sein Träger vorsichtshalber ein paar Vorräte für eine lange Reise eingepackt.
    Der glasige Blick aus wässrigen Augen war gen Himmel gerichtet als suche er dort Eingebung, mindestens aber Ermutigung für sein Tun, wenigstens jedoch eine Antwort auf die Frage aller Fragen – warum er es tat.
    Hinter dem Alten stakste ein untersetztes, unscheinbares Männchen auf kurzen, krummen Beinen. Wo andere einen einzigen Schritt taten, brauchte es drei. Seine graue Kutte war um einige Ellen zu groß, ständig geriet der Kleine ins Straucheln und fiel seinem Vordermann in den Rücken. Die schwarze struppige Mähne hing ihm wirr ins Gesicht, selbst wenn er die schmierigen Strähnen bei jedem Schritt zur Seite strich, konnte er unmöglich sehen, wohin er trat. Es blieb ihm nicht viel mehr übrig, als an dem Alten zu kleben wie ein Schatten.
    Der Dritte im Bunde überragte sie alle. Er schleppte ein wahres Gebirge von Buckel mit sich, sein spiegelblanker Schädel war zwischen die Schulterblätter gesunken, weshalb er anatomisch gar nicht in der Lage schien, die Augen vom Boden zu lösen. Sein Atem war ein müdes Rasseln, seine schweren Schritte hinterließen tiefe Pfützen im nassen Sand.
    Hinter den Dreien folgten weitere Gestalten, alle im Gänsemarsch, eine lange, schweigende Prozession von Mönchen, die über den Strand zogen, bis sich der letzte als unbedeutende Silhouette im Nebel verlor.
     
    Er sollte endlich mit dem Trinken aufhören.
     

1. Pleurants
    Er blinzelte.
    Mit etwas Phantasie sahen die Felsen tatsächlich aus wie eine düstere Prozession mittelalterlicher Mönche, besonders wenn die Phantasie von fünfzehn Jahre altem schottischen Single Malt beflügelt wurde. Im Reflex klopfte er gegen die Innentasche seiner Barbourjacke. Der Flachmann klang erschreckend hohl. Er sollte ihn im nächsten Pub nachfüllen.
    Sein Reiseführer hatte das Naturschauspiel beschrieben. Welchem unergründlichen Muster auch immer Gott gefolgt war, als er diese Steine in den Sand geworfen hatte, sie gaben den Menschen seit jeher Rätsel auf. Mannshohe Felsbrocken, die in einer geheimnisvollen Ordnung über den Strand zu marschieren schienen, die aber anders als prähistorische Steinkreise nicht von Menschenhand dorthin gestellt worden waren, sondern allein das Werk von Mutter Natur waren. Sonne und Wind, Ebbe und Flut hatten den Steinen über die Jahrtausende zugesetzt. Algen und Flechten wucherten Bärten gleich auf der verwitterten Oberfläche. Muscheln hatten sich in den winzigsten Winkeln festgekrallt und bizarre Muster gebildet, während das Salzwasser stetig am Fundament nagte. Es war abzusehen, dass in ein paar hundert Jahren nichts mehr da sein würde, das die Phantasie eines Betrachters beflügeln konnte.
    Im vergangenen Jahrhundert hatte ein findiger Tourismusmanager der Felsformation den Namen   Pleurants   gegeben. Das war Französisch und bedeutete frei übersetzt so viel wie Trauerzug, in Anlehnung an steinerne Figuren bedeutender Grabmale noch bedeutenderer Könige. Genützt hatte es nichts, Touristen waren keine gekommen, und die rätselhaften Steine wanderten weiter unbeachtet über einen menschenleeren Strand. Es gab weit und breit nichts Bemerkenswertes. Keine bedeutenden Kulturschätze, weder römische Ausgrabungen noch himmelstürmende Zeugnisse mittelalterlicher

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