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Die Erben

Die Erben

Titel: Die Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Golding
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im aufhellenden Tagesschein, wie sehr ihn ihre verzweifelte Flucht entkräftet hatte. Falten um den Mund hatte er zuvor schon gehabt, tiefe Furchen von den Nasenflügeln abwärts, doch jetzt war das Gesicht unter den Haaren nicht nur faltig, sondern eingefallen. Äußerste Erschöpfung sprach aus der schrägen Neigung des Kopfes, und das Kinn hing schlaff herab. Bald, wenn wir in Sicherheit sind und das Land der Teufel hinter uns haben, dachte Tuami, bald werde ich es wagen und den Elfenbeindolch gebrauchen.
    Und doch – er brauchte auch jetzt nur Marlan anzublicken, um vor dem Gedanken an seinen gewaltsamen Tod zurückzuschrecken. Er wandte die Augen von ihm ab, sah hinüber zu dem Gewirr von Leibern im Bug hinter dem Mast und dann vor seine Füße. Dort lag Tanakil flach auf dem Rücken. Sie war nicht des Lebens entblößt wie Marlan, sie hatte eher Leben im Überfluß, neues Leben, das nicht ihr eigenes war. Sie rührte sich kaum, und unter ihrem schnellen Atem ging ein Strich getrockneten Blutes an ihrer Unterlippe auf und ab. Die Augen schliefen nicht und waren auch nicht wach. Jetzt da er sie deutlich sehen konnte, erkannte er, daß die Nacht in ihnen fortdauerte, denn sie waren eingesunken und dunkel – Stumpfheit ohne Verstand. Obwohl er sich so weit vorbeugte, daß sie ihn hätte sehen müssen, richteten sich ihre Augen nicht auf sein Gesicht, sondern starrten angespannt einwärts in die Nacht. Twal, die neben ihr lag, hatte einen Arm beschützend um sie gelegt. Twals Körper glich dem einer alten Frau; und sie war doch Tanakils Mutter und jünger als er.
    Tuami fuhr sich abermals mit der Hand über die Stirn. Wenn ich dieses Ruder beiseitelegen ,und an meinem Dolch weiterarbeiten könnte oder wenn ich Holzkohle hätte und einen flachen Stein – er suchte mit dem Blick im Boot verzweifelt nach etwas, das seine Aufmerksamkeit zu fesseln imstande war – ich bin wie ein Tümpel, dachte er, eine Flut hat mich angefüllt, Sand wirbelt auf, die Wasser sind getrübt, und seltsame Wesen kommen aus den Spalten und Winkeln meines Denkens gekrochen. Das Fell zu Vivanis Füßen bewegte sich, hob sich auf, und er glaubte, sie erwache. Dann aber kam ein kleines Bein hervor, ein rotes Bein, mit Locken bedeckt und nicht länger als seine Hand. Es tastete umher, fühlte über das Gefäß, verstand nichts damit anzufangen, traf auf Fell, reckte sich noch einmal und streifte mit den Zehen durch ein Haarbüschel. Befriedigt hielt es sich an dem Bärenfell fest, umklammerte ein, zwei Locken und lag wieder still. Tuami schüttelte es, wie es einen Mann schüttelt, der einen Anfall hat; das Ruder schlug aus, und die parallelen Linien liefen vom Boot fort. Das rote Bein war eines von sechsen, die aus einer Spalte gekrochen kamen. »Was hätten wir denn sonst tun sollen?« rief er aus. Sein Blick blieb am Mast und am Segel haften. Er sah, daß Marlan die Augen aufgeschlagen hatte, und wußte nicht, wie lange er ihn schon beobachtete. Marlan sprach von tief innen heraus. »Die Teufel lieben nicht das Wasser.« Das stimmte, das war Trost. Das Wasser war Meilen weit und hell. Tuami blickte Marlan aus seinem trüben Tümpel, aus seiner verzweifelten Gedankenwirrnis heraus flehend an. Er vergaß den Dolch, der schon fast ganz spitz zugeschliffen war.
    »Wenn wir es nicht getan hätten, wären wir umgekommen.«
    Marlan rutschte unruhig hin und her, um eine Lage zu finden, in der das harte Holz nicht schmerzte. Dann sah er Tuami an und nickte ernst.
    Das Segel glühte rotbraun. Tuami blickte zurück zur Schlucht, die die Berge zerteilte, und sah, daß sie voll goldenen Lichts war, und die Sonne lag darinnen. Als gehorchten sie einem Zeichen, begannen die anderen sich zu regen, sich aufzusetzen und über das Wasser auf die grünen Berge zu schauen. Twal beugte sich über Tanakil und küßte sie und murmelte Worte in ihr Ohr. Tanakils Lippen gingen auseinander. Ihre Stimme war rauh und kam von weit her aus dem Dunkel ihrer Nacht. »Liku!«
    Tuami hörte, wie Marlan vom Mast her ihm zuflüsterte: »Das ist der Name des Teufels. Nur sie darf ihn aussprechen.«
    Jetzt erwachte Vivani wirklich. Sie hörten ihr lautes, lustvolles Gähnen, und der Bärenpelz fiel herab. Sie richtete sich auf, schüttelte das lose Haar zurück und sah zuerst Marlan an, dann Tuami. Mit einem Schlag erfüllten ihn wieder zugleich Begierde und Haß. Wenn sie nicht gewesen wäre, was sie war – wenn Marlan, wenn ihr Mann – wenn sie ihren Säugling im Sturm auf

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