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Die Erben

Die Erben

Titel: Die Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: EJ Waldau
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auffasste. Wir hatten beide beinahe türkise Augen und eher markante als weiche Gesichtszüge. Außerdem waren wir groß, größer als unsere Eltern, dennoch überragte mich Thor um ein ganzes Stück. Was den Körperbau anging war es mit den Gemeinsamkeiten jedoch vorbei. Wir waren zwar beide schlank, doch Thor hatte die Statur eines Sportlers, während ich einfach nur stinkfaul war und jeden Tag meinem Stoffwechselsystem dankte, dass es mir die Fresserei und die mangelnde Bewegung so freundlich verzieh.

Der größte Unterschied zwischen Thor und mir bestand aber darin, dass er überall beliebt war, egal bei wem und egal wohin er kam, während ich eigentlich froh war, wenn ich einfach nur meine Ruhe hatte. Manchmal machte ich Witze darüber, dass die Leute nur so freundlich zu ihm waren, weil er aussah wie der Terminator und sie Angst hatten, er könnte ihnen den Kopf abreißen, wenn sie nicht freundlich zu ihm waren. Aber die Wahrheit war, dass mein Bruder wirklich ein unglaublich netter Mensch war und jedem zuhörte, der ein Problem hatte.

„Jetzt kommt doch rein und steht nicht so im Flur herum.“ Mum hatte den Kopf durch die Tür gesteckt und winkte uns ins Esszimmer, wo ich mich wie ausgehungert an den gedeckten Tisch setzte und nach einem Brötchen griff.

„Lyn, wir warten, bis euer Vater von der Arbeit zurück ist“, ermahnte mich Mum und schuldbewusst legte ich das Brötchen zurück in den Korb.

„Es ist schön, dass sich manches nicht ändert, egal wie lange man nicht mehr hier war“, grinste mich mein Bruder an, als er sich mir gegenüber hinsetzte und ich streckte ihm die Zunge raus.

„Wo ist eigentlich deine Freundin?“ Ich hatte Mühe, meine Stimme nicht zu hoffnungsvoll klingen zu lassen. Fiona, von mir auch liebevoll Vakuum-Birne genannt, war mir alles andere als sympathisch und ich hoffte doch, dass ihre Abwesenheit einen Grund hatte.

„Sie ist geschäftlich in Europa“, erklärte er mir und ich verzog das Gesicht.

„Die armen Europäer.“

Thor hob missbilligend eine Augenbraue, erwiderte aber nichts. „Wie läuft die Schule?“, fragte er stattdessen.

„Alles beim Alten.“ Ich zuckte mit den Schultern und begann mit meiner Gabel zu spielen, während Mum anfing das Essen auf den Tisch zu stellen. „Meine Noten sind gut, auch wenn ich heute eine Strafarbeit aufgebrummt bekommen hab.“

„Warum das?“, wollte Thor wissen.

„Weil ich eine Hausaufgabe abgeschrieben habe. Aber morgen werde ich wahrscheinlich noch eine Strafarbeit bekommen“, prophezeite ich unbeeindruckt und auf Thors fragenden Blick hin zuckte ich mit den Schultern. „Ich gedenke Brad morgen so lange anzuschreien, bis er heult. Im Notfall hau ich ihm auch eine rein.“

„Brad?“

„Der, der mich verpfiffen hat.“

Thor lachte auf und sah zu meiner Mutter, die mich nur wehleidig anstarrte, als sie die heißen Kartoffeln vor mir auf dem Tisch abstellte. Es war für sie jedes Mal ein Weltuntergang, wenn sie erkennen musste, dass ich nicht wie eine kleine Prinzessin durch die Welt tanzte und Freude unter den Menschen verbreitete.

Im Flur hörten wir, wie die Haustür aufgeschlossen wurde und kurz darauf hörte ich das Klirren von Dads Schlüsselbund in der Glasschale auf dem Flurschrank.

„Bin da, wer noch?“, rief er und ich sank ein wenig tiefer in den Stuhl. Seit Jahren brachte er beinahe jeden Tag diesen Spruch und fand ihn noch immer witzig.

„Wir sind im Esszimmer, Glenn“, antwortete ihm Mum und kurz darauf kam er ins Zimmer und sah mit freudestrahlenden Augen zu Thor.

„Thor, wie schön dich zu sehen“, begrüßte er ihn und Thor stand auf, um seinen Vater, der ihm gerade einmal bis ans Kinn reichte, zu umarmen.

Unsere Familie war wirklich ein Fall für die Wissenschaft.

Ich sah wieder auf den Tisch und erst jetzt fiel mir auf, dass er anders gedeckt war als sonst. Mum hatte sogar eine Tischdecke auf den Tisch gelegt. Und zwar nicht nur irgendeine. Es war die, die ihre Mutter aus Island selbst bestickt hatte und grundsätzlich nur zu seltenen Anlässen aus dem Schrank geholt wurde.

„Wartet mal, war Thors Besuch etwa geplant?“, meinte ich plötzlich laut und sah in die entschuldigenden Gesichter meiner Eltern.

„Naja, wir dachten, wir überraschen dich diesmal“, murmelte meine Mutter und ich verdrehte die Augen, da mir durchaus bewusst war, was der Grund dafür war.

Als ich letztes Weihnachten erfahren hatte, dass Thor bis Anfang Januar bleiben würde, hatte ich vor lauter

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