0731 - Seelen-Tränen
Professor Zamorra erwachte unsanft. Ein gellender Schrei hatte ihn geweckt. Ein Schrei, wie ihn nur ein Wesen in Todesangst und unter unglaublichen Schmerzen ausstößt. Er setzte sich zitternd im Bett auf und schaltete mit der linken Hand das Licht an. Obwohl dieser Vorgang nur wenige Sekunden dauerte, schienen für ihn Jahre zu vergehen.
Dann betrachtete er ungläubig seinen rechten Unterarm.
Minutenlang.
Er konnte es nicht fassen, dass der Arm noch dran war.
»Der war doch eben abgetrennt«, flüsterte er heiser. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Dann erinnerte er sich. »Ah, nur ein Traum«, krächzte er erleichtert und ließ sich zurück auf das Kopfkissen fallen.
Jetzt verfolgt mich die Sache mit dem verschwundenen Bild und dem abgetrennten Unterarm sogar bis in den Schlaf!, dachte er verärgert.
Dabei ist das schon fast vier Monate her. [1]
Er blickte an die Zimmerdecke des abgedunkelten Raumes.
Minutenlang.
Tausend Gedanken durchzuckten ihn, ohne dass er einen davon für Sekunden festhalten konnte.
Ein Glück, dass Nicole heute in ihrem eigenen Zimmer übernachtet, stellte er schließlich fest, als er wieder klar denken konnte. So laut, wie ich geschrien habe, wäre sie bestimmt aus dem Bett gefallen.
Nicole Duval, seine Lebensgefährtin, Sekretärin und Partnerin im Kampf gegen die Dunkelmächte, hatte sich am Vorabend unwohl gefühlt.
»Das ist bestimmt nur die Umstellung vom indischen Klima auf das unsere«, hatte sie gemeint, denn seit sie wie Zamorra vom Wasser der Quelle des Lebens trank, konnte sie nicht mehr ernsthaft erkranken.
Sie waren vor zwei Tagen aus Indien zurückgekommen, wo sie zusammen mit Asha Devi, Inspektorin bei der Demon Police, einen Einsatz gegen Ssacah-Anhänger durchgeführt hatten. Auch wenn der Kobra-Dämon selbst vernichtet war, gab es immer noch unglaublich viele seiner Anbeter, die nach wie vor hofften, ihn ein weiteres Mal wiederbeleben zu können. Diesmal hatten sie es mit Computerviren versucht, die eine Ssacah-Matrix in sich trugen und die darin befindliche virtuelle Ssacah-Realität auf magischer Basis auch in der Wirklichkeit materialisieren sollten. [2]
Seit der Rückkehr fühlte Nicole sich müde und hatte es sich in ihrer Unterkunft bequem gemacht.
»Ich möchte heute Nacht alleine sein, Cheri. Morgen geht es mir bestimmt wieder besser. Es kann nur am Jet-Lag liegen«, waren ihre Worte gewesen.
Zuerst war Zamorra enttäuscht gewesen über Nicoles Entscheidung, jetzt aber war er froh darüber. Mit seinem Schrei hätte er sie garantiert geweckt.
Ich habe selbst noch mit der Zeitumstellung zu kämpfen, dachte er verärgert, als er aufstand. Meistens kannte er solche Schwierigkeiten nach Reisen in andere Zeitzonen nicht.
Er gähnte und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Dann schüttelte er den Kopf und verschwand Richtung Bad. Er fühlte sich wie gerädert. Da auch er von der Quelle des Lebens getrunken hatte, konnte sein derzeitiger Zustand nur von diesem Albtraum stammen.
Der Blick in den Badezimmerspiegel brachte ihn auch nicht auf fröhlichere Gedanken.
»Ich kenne dich zwar nicht, aber ich rasiere dich trotzdem«, murmelte er, konnte über den Scherz aber nicht lachen.
Er streckte sich, dabei fiel sein Blick auf die Uhr.
»Was, schon halbzwölf vorbei? Gleich Mittag«, stellte er beinahe erschrocken fest. Seinem Zeitgefühl nach musste es mindestens fünf Stunden früher sein.
Er zog sich an und sah nach Nicole. Diese schlief noch den Schlaf der Gerechten. Durch den Kampf gegen die Dunkelmächte waren sie und Zamorra zu Nachtmenschen geworden, die erst in den Morgenstunden ins Bett kamen und frühestens bis kurz vor dem Mittag schliefen.
Ich brauche etwas Zerstreuung, erkannte der Meister des Übersinnlichen. Bloß, wohin könnte ich…?
»Zu Pascal Lafitte?« Er schüttelte den Kopf.
Er zählte an den Fingern ab.
»Fooly geht mir in diesem Zustand auf die Nerven. Patricia würde mich nicht verstehen. William auch nicht. Hm… Ich muß 'raus aus dem Château und…«
Er knetete seine Finger.
Mostache?
Er war sich im ersten Augenblick nicht sicher.
»Natürlich!« Er hieb sich mit der Hand an den Kopf. »Zu Mostache!«
Beim Wirt der besten weil einzigen Kneipe des Dorfes befanden sich bestimmt einige der Originale des Ortes. Und wo kann man besser Zerstreuung finden als bei Freunden?
»Jawohl! Auf zu Mostache! Ich gehe zum Teufel…«
Langsamen Schrittes verließ er Château Montagne. Im Hof stand sein geleaster,
Weitere Kostenlose Bücher