Die Erbin
und ständig entsprechende Anspielungen machte, alle Anwälte für reiche Geizhälse hielt und überhaupt eine unangenehme Person war. Sie stammte aus Indiana, und wie viele aus dem Norden brachte sie wenig Verständnis für die Kultur des Südens auf. Offenbar stammte sie aus besseren Kreisen, doch dann hatte es sie in ein rückständiges Nest wie Clanton verschlagen. Auch wenn Jake keine Nachforschungen angestellt hatte, vermutete er, dass ihre Ehe alles andere als gut lief. Ihr Mann hatte seine Stelle wegen Pflichtversäumnis verloren. Sie hatte Jake gebeten, für ihn zu klagen, doch Jake hatte abgelehnt, und das machte ihr Verhältnis auch nicht leichter. Außerdem fehlten rund fünfzig Dollar aus der Handkasse, und Jake vermutete das Schlimmste.
Wenn sein Verdacht stimmte, würde er sie feuern müssen, und daran wollte er noch nicht einmal denken. Morgens in seinen stillen Minuten sprach er täglich ein Gebet und bat Gott, ihm Geduld zu schenken, damit er es mit dieser Frau weiterhin aushielt.
Da waren schon so viele andere gewesen. Er hatte immer junge Frauen genommen, weil das Angebot größer war und sie geringere Gehälter akzeptierten. Die besseren heirateten, wurden schwanger und wollten ein halbes Jahr Mutterschutz. Die schlechten waren auf Flirts aus, trugen hautenge Miniröcke und machten anzügliche Bemerkungen. Eine drohte mit einer Klage wegen sexueller Belästigung, als Jake sie entließ, doch dann wurde sie wegen Scheckbetrugs festgenommen und verschwand von der Bildfläche.
Später hatte er reifere Frauen bevorzugt, um der sexuellen Versuchung von vornherein zu begegnen, doch sie waren alle samt herrschsüchtige Glucken gewesen, hatten mit Wechseljahresbeschwerden oder anderen Wehwehchen zu tun gehabt und waren ständig beim Arzt oder auf Beerdigungen.
Lange Zeit hatte Ethel Twitty das Regiment im Vorzimmer geführt, die schon für die Wilbanks gearbeitet hatte, als deren Kanzlei noch auf Hochtouren lief. Vierzig Jahre lang hatte Ethel ihre Arbeitgeber herumkommandiert, ihre Kolleginnen terrorisiert und die Junganwälte nach spätestens ein oder zwei Jahren verprellt. Inzwischen war sie im Ruhestand, nachdem Jake sie im Verlauf des Hailey-Prozesses entlassen hatte. Ihr Mann war von Schlägern zu Tode geprügelt worden, wahrscheinlich im Auftrag des Klans, doch der Fall war noch immer nicht gelöst, und die Ermittlungen liefen ins Nichts. Jake war sehr erleichtert gewesen, als sie weg war, doch jetzt vermisste er sie beinahe.
Um exakt halb neun stand er unten in der Küche und schenkte sich Kaffee ein. Dann durchstöberte er einen Archivraum, als wäre er auf der Suche nach einer alten Akte. Als Roxy um 8.39 Uhr durch die Tür kam, stand Jake vor ihrem Schreibtisch und blätterte demonstrativ Unterlagen durch. Schon wieder zu spät. Es interessierte ihn wenig, dass sie vier kleine Kinder hatte, einen arbeitslosen Mann, einen Job, den sie nicht mochte und der ihrer Meinung nach schlecht bezahlt war, und mit Sicherheit einen Haufen anderer Probleme. Wenn er sie sympathisch gefunden hätte, dann hätte er sicher etwas Mitgefühl aufbringen können. Doch er mochte sie von Woche zu Woche weniger. Er hatte im Geiste eine Liste angelegt, in der er Minuspunkte sammelte, die er ihr alle aufzählen würde, wenn es zum un vermeidlichen Konflikt kam. Es war, als würde er heimlich ein Komplott schmieden, um seine unliebsame Sekretärin loszu werden. Erbärmlich.
»Guten Morgen, Roxy«, sagte er mit Blick auf seine Armbanduhr.
»Hallo, tut mir leid, dass ich zu spät bin, ich musste die Kinder zur Schule bringen.« Jake hasste ihre Lügen, auch wenn sie noch so unbedeutend waren. Ihr arbeitsloser Mann fuhr die Kinder zur Schule. Carla hatte das überprüft.
»Aha«, murmelte er und griff zu dem Stapel Briefumschläge, den sie gerade auf ihren Schreibtisch gelegt hatte. Er wollte sehen, ob etwas Interessantes dabei war, bevor sie sie öffnete. Es war die übliche Mischung aus Werbung und Anwaltskram – Schreiben von anderen Kanzleien, eines von einem Richter, di cke Umschläge mit Kopien von Briefen, Anträgen, Schriftsätzen und so weiter, die er gar nicht erst öffnete, weil das Aufgabe der Sekretärin war.
»Suchen Sie was Bestimmtes?«, fragte sie, während sie ihre Taschen abstellte.
»Nein.«
Wie üblich, wenn sie morgens kam, sah sie ziemlich ungepflegt aus. Und wie üblich eilte sie als Erstes in die Toilette, um Make-up aufzulegen und sich zu frisieren, was oft weitere fünfzehn Minuten in
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