Die Erbin
hingebungsvolle Fürsorge und Freundschaft in diesen letzten Jahren. Ihr voller Name lautet Letetia Delores Tayber Lang, und ihre Adresse ist 1488 Montrose Road, Box Hill, Mississippi.
9. Ich schenke, hinterlasse etc. 5 Prozent meines Vermögens meinem Bruder Ancil F. Hubbard, sofern er noch lebt. Ich habe seit vielen Jahren nichts von ihm gehört, jedoch oft an ihn gedacht. Er war ein hilfloser kleiner Junge und hätte etwas Besseres verdient. Als Kinder haben wir Dinge erlebt, die kein Mensch je erleben sollte, und Ancil hat sich von dem Trauma nie erholt.
10. Ich schenke, hinterlasse etc. 5 Prozent meines Vermögens der Irish Road Christian Church.
11. Ich weise meinen Testamentsvollstrecker an, mein Haus, mein Land, meine Immobilien und meinen persönlichen Besitz sowie mein Sägewerk bei Palmyra zum geeigneten Zeitpunkt zu markt üblichen Preisen zu verkaufen und den Erlös meinem Vermögen zuzuführen.
Seth Hubbard, 1. Oktober 1988
Die Unterschrift war klein, aber sauber und gut leserlich. Jake wischte sich wieder die Hände an der Hose ab und las das Testament noch einmal. Es füllte zwei Seiten, und die Zeilen waren gerade, wie mit dem Lineal gezogen, als hätte Seth beim Schreiben tatsächlich irgendeine Schiene zu Hilfe genommen.
Ein Dutzend Fragen drängten sich auf, allen voran die offensichtlichste: Wer um alles in der Welt war Lettie Lang? Gefolgt von: Was genau hatte sie getan, um neunzig Prozent zu verdienen? Dann: Wie groß war das Vermögen? Und wenn es wirklich groß war, wie hoch war die Erbschaftssteuer? Und natürlich ganz wichtig: Wie viel würde für den Anwalt abfallen?
Aber jetzt nicht gleich gierig werden. Jake fing an, im Büro auf und ab zu gehen. In seinem Kopf drehte sich alles, in seinen Adern begann das Blut zu rauschen. Was für ein Segen von einem Rechtsstreit. Wenn viel Geld im Spiel war, würde Seths Familie mit Sicherheit einen Anwalt nehmen und das Testament anfechten. Jake hatte noch nie mit einem Nachlassstreit zu tun gehabt, doch er wusste, dass solche Fälle oft vor dem Chancery Court landeten oder sogar von Geschworenengerichten entschieden wurden. In Ford County gab es selten viel zu erben, aber es war schon vorgekommen, dass jemand mit bescheidenem Vermögen starb, der seinen Nachlass nicht geregelt hatte oder ein unklares Testament hinterließ. Diese Fälle waren für die Anwälte vor Ort eine Goldgrube, an den Gerichten herrschte Hochbetrieb, und das strittige Erbe floss zum überwiegenden Teil in Anwaltshonorare.
Jake legte die drei Blätter samt Umschlag sorgfältig in eine Mappe, mit der er zu Roxy ging. Sie war dabei, die eingegangene Post durchzuschauen, und sah inzwischen etwas ordentlicher aus. »Lesen Sie das«, sagte er. »Und zwar sehr aufmerksam.«
Sie folgte seiner Anweisung. Als sie fertig war, sagte sie: »Wow. Damit fängt die Woche schon mal gut an.«
»Nicht für Seth Hubbard«, erwiderte Jake. »Bitte merken Sie sich, dass das Schreiben am heutigen 3. Oktober eingegangen ist.«
»In Ordnung. Warum?«
»Der Zeitpunkt könnte eines Tages vor Gericht eine Rolle spie len. Samstag, Sonntag, Montag.«
»Muss ich als Zeugin aussagen?«
»Kann sein, muss nicht sein. Das sind nur Vorsichtsmaß nahmen.«
»Sie sind der Anwalt.«
Jake machte vier Kopien von Umschlag, Anschreiben und Testament. Er gab Roxy ein Exemplar, damit sie eine neue Fall akte anlegte, zwei schloss er in seiner Schreibtischschublade ein. Um neun Uhr verließ er das Büro mit dem Original und einer Kopie, nachdem er Roxy gesagt hatte, dass er zum Gericht gehen werde. Dann betrat er nebenan die Security Bank, um das Original in seinem Schließfach zu deponieren.
Ozzie Walls’ Büro befand sich im County-Gefängnis, zwei Straßen entfernt vom Clanton Square in einem flachen Betonkasten, der zehn Jahre zuvor in Billigbauweise hochgezogen worden war. Die nachträglich angefügten Räume für den Sheriff und seine Leute klebten wie ein Geschwür an dem Gebäude und waren ausgestattet mit billigen Schreibtischen, Klappstühlen und verdreckten Teppichen, die an den Fußleisten ausgefranst waren. Montagvormittag ging es meistens besonders turbulent zu, weil die Exzesse vom Wochenende nachwirkten. Wütende Ehefrauen kamen, um ihre verkaterten Männer auszulösen oder um Anzeige zu erstatten, damit sie festgenommen wurden. Nervöse Eltern warteten darauf, von ihrem Nachwuchs zu hören, der in eine Drogenrazzia geraten war. Die Telefone klingelten häufiger als sonst und verhallten oft
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