Die Erbin
die sich kilometerlang durch Hubbards Ländereien schlängelte. Auf der Fahrt fing Calvin an, sich Gedanken zu machen. Sein Chef hatte ihn noch nie an einem Sonntagnachmittag zu sich bestellt. Er wusste, dass Mr. Hubbard krank war, sogar todkrank, wenn die Gerüchte stimmten, doch von ihm selbst hatte er dazu nie etwas gehört.
Die Brücke war nicht mehr als eine Holzplattform über einem namenlosen, schmalen Bach, der von Kudzu-Kraut überwach sen war und von Mokassinottern nur so wimmelte. Mr. Hubbard hatte eigentlich vorgehabt, den Graben zu einem betonierten Kanal ausbauen zu lassen, doch in den letzten Monaten war er schon zu krank gewesen. In der Nähe standen auf einer Lich tung zwei verfallene und von Grün überwucherte Schuppen. Nichts sonst deutete darauf hin, dass sich hier einst eine kleine Siedlung befunden hatte.
Nahe der Brücke parkte Mr. Hubbards nagelneuer Cadillac, Fahrertür und Kofferraumdeckel standen offen. Calvin hielt dahinter und betrachtete den Wagen. In diesem Moment hatte er zum ersten Mal das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Es regnete beständig, und der Wind hatte zugenommen, warum also hatte Mr. Hubbard Tür und Deckel nicht geschlossen? Calvin ließ seinen Sohn im Pick-up sitzen und ging langsam um den Cadillac herum, ohne ihn zu berühren. Nirgendwo ein Hinweis auf den Chef. Er atmete tief durch, wischte sich den Regen aus dem Gesicht und suchte mit den Augen die Umge bung ab. Hinter der Lichtung, vielleicht hundert Meter ent fernt, hing ein Mann an einem Baum. Er kehrte zu seinem Wagen zurück und hieß seinen Sohn, sich nicht von der Stelle zu rühren und die Türen verriegelt zu lassen. Doch es war zu spät. Der Junge hatte die Platane in der Ferne auch gesehen und starrte unverwandt in ihre Richtung.
»Du bleibst hier«, sagte Calvin streng. »Wehe, du steigst aus.«
»Ja, Sir.«
Vorsichtig machte Calvin sich auf den Weg. Der Boden war schlammig und glatt, und er musste seine Schritte bedachtsam wählen, um nicht auszurutschen. Außerdem – wozu sich eilen? Je näher er kam, desto klarer wurde das Bild. Der Mann im dunk len Anzug am Ende des Seils war eindeutig tot. Jetzt erkannte Calvin auch, wer es war. Und als er die Stehleiter sah, war ihm endgültig klar, was geschehen war. Ohne etwas anzufassen, kehrte er zum Auto zurück.
Man schrieb Oktober 1988, und selbst im ländlichen Mississippi war das Autotelefon inzwischen angekommen. Auf Mr. Hubbards Drängen hin hatte Calvin sich eines in seinen Pick-up einbauen lassen. Er rief den Sheriff von Ford County an, berichtete kurz und begann zu warten. In der Wärme seines beheizten Autos, beschwichtigt von Merle Haggard, der im Radio sang, starrte Calvin durch die Windschutzscheibe und klopfte mit den Fin gern zum Takt der Scheibenwischer, bis er merkte, dass er weinte. Der Junge wagte nichts zu sagen.
Eine halbe Stunde später trafen zwei Deputys ein. Während sie Regencapes überstreiften, kam ein Krankenwagen mit drei Sanitätern. Zunächst blieben alle auf dem Weg stehen und späh ten auf die Platane in der Ferne, bis sie überzeugt schienen, dass da tatsächlich ein Mann hing. Calvin erzählte ihnen, was er wusste. Die Deputys beschlossen, den Vorfall wie ein Verbrechen zu behandeln, und untersagten dem Erste-Hilfe-Team den Zutritt. Ein dritter Deputy erschien, dann ein weiterer. Sie durchsuchten den Cadillac, fanden aber nichts. Sie fotografierten und filmten Seth, wie er mit geschlossenen Augen und grotesk verdrehtem Kopf am Ast baumelte. Sie studierten die Spuren um die Platane, entdeckten jedoch keine Hinweise auf eine zweite Person. Ein Deputy fuhr Calvin zu Mr. Hubbards Haus, das ein paar Kilometer entfernt lag. Der Junge saß auf dem Rücksitz und sprach immer noch kein Wort. Das Haus war unverschlossen. Auf dem Küchentisch lag ein gelber Schreibblock mit einer Nachricht. In Seths ordentlicher Handschrift stand da geschrieben: »Für Calvin. Bitte teilen Sie der Polizei mit, dass ich mir das Leben genommen habe und dass mir niemand dabei geholfen hat. Auf dem beigefügten Blatt habe ich Anweisungen zu meiner Bestattung und Trauerfeier aufgeschrieben. Keine Autopsie! S. H. « Das Datum war das desselben Tages, Sonntag, 2. Oktober 1988.
Schließlich durfte Calvin gehen. In aller Eile brachte er seinen Sohn nach Hause, der sich in die Arme der Mutter stürzte und auch für den Rest des Tages kein Wort mehr sprach.
Ozzie Walls war einer von zwei schwarzen Sheriffs in Mississippi. Der andere war erst
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