Die Erde
buntem Durcheinander zählt er in Frage kommende Personenkreise und verschiedene Feldarbeiten auf, skizziert er Szenen aus dem Dorfleben, die er für wichtig erachtet, hält er kurz einzelne markante Begebenheiten fest, die vielleicht aus persönlichen Erinnerungen geschöpft sind, vielleicht irgendwelcher Lektüre entstammen. Aber all dies gleichsam im Telegrammstil, ohne die einzelnen Punkte nach ihrer Bedeutung für den Roman zu werten. Sobald er jedoch die sozialen und historisch politischen Aspekte dieses Komplexes anschneidet, wird er ausführlicher und unterstreicht ausdrücklich deren Bedeutung: »Soziale Seite des Themas sehr wichtig. Die Politik, ihre Rolle muß klar angegeben werden.«
Diese Vielgesichtigkeit der Aufgabenstellung aber bringt Zola bei dem Versuch, sie in einem einzigen Roman künstlerisch zu bewältigen, in ungeahnte Schwierigkeiten.
Zuerst und am deutlichsten erweist sich dies in der Fixierung des dramatischen Knotens, einer alle Teile umfassenden einheitlichen Handlung. Auf mehr als dreißig Seiten des Entwurfs kombiniert Zola immer neue Möglichkeiten, um die Vielfältigkeit seiner Thematik zu einem organischen Ganzen zu verschmelzen.
An sich hatte Zola auch in der Erde einen solchermaßen fruchtbaren Ausgangspunkt gewählt: das Problem der fortschreitenden Parzellierung des Kleinbesitzes durch die Erbteilungen. Bei ausschöpfender Darstellung dieses Problems mit all seinen gesellschaftlichen Bezügen, Wurzeln und Auswirkungen hätte Zola alle politischen, historischen und sozialen Fragen, die zu behandeln er sich vorgenommen hatte, organisch daraus entwickeln können: Da er aber auf Grund seiner von Taine übernommenen positivistischen Arbeitsweise, wonach jeder Gegenstand isoliert zu untersuchen und zu behandeln ist, die Parzellierung des Grundbesitzes gleichsam als ein Phänomen an sich betrachtet, ohne seine vielfältige Verflechtung mit der gesamten ökonomischen Zeitproblematik einzubeziehen und zu erfassen, kann er die für den einzelnen Menschen daraus entspringenden Konflikte und Schwierigkeiten sowie seine Verhaltensweisen nur als Erscheinungen wiedergeben, die im rein subjektiv menschlichen Bereich vor sich gehen.
Infolge dieser Verschiebung von der Darstellung der sozialen Problematik zur losgelösten Wiedergabe der ihr im subjektiven Bereich psychologisch entsprechenden Reflexe muß Zola auch das zentrale sozialökonomische Problem – fortschreitende Parzellierung des Kleinbesitzes und ihre Folgen – in zwei getrennte, wenn auch personenmäßig miteinander verbundene individuelle Tragödien auflösen, um durch diese Doppelung zumindest zweier Seiten dieses Vorgangs habhaft zu werden. Der Zerstückelung der Erde durch die Erbteilung des alten Fouan steht als Gegenbewegung der leidenschaftliche Kampf seines Sohnes Geierkopf gegenüber, der vor nichts – vor keiner Gemeinheit und vor keinem Verbrechen – zurückschreckt, um Lises und Françoises von Vater Fliege ererbten Besitz ungeteilt zu behalten und so die von seinem Vater überkommene Parzelle wieder zu einem größeren Stück Erde aufzurunden.
Aber mit der Schürzung dieses zentralen Handlungsknotens war Zolas Bemühen um einen einheitlichen Aufbau und eine »logische« Verknüpfung aller Teilkomplexe noch nicht zum Abschluß gebracht. Zu viele Aspekte seines Themas harrten noch des einigenden Bandes.
Da war zunächst die Darstellung der Agrarkrise, die als ein brennendes, aktuelles, politisches Problem der achtziger Jahre Zola sehr am Herzen lag, wie ja ganz allgemein sein wachsendes Interesse für die neuen ökonomisch sozialen Probleme mit dem Fortschreiten der »RougonMacquart« nachweisbar ist. Vielleicht hatte diese Krise überhaupt den letzten Anstoß gegeben, in die »Natur und Sozialgeschichte einer Familie unter dem Zweiten Kaiserreich« die Bauern mit einzubeziehen. Denn entgegen allen nachträglichen Behauptungen Zolas war Die Erde in den ursprünglichen Plänen nicht vorgesehen, Der erste gesicherte Hinweis findet sich in einem am 5. Februar 1880 in Le Voltaire veröffentlichten Artikel, worin Jules Lafitte die Beendigung der Nana ankündigt und über die weiteren Pläne des Autors berichtet: »Herr Zola hat die Absicht, nach und nach die Welt der Bauern, der Soldaten und der Politiker zu studieren.« Zu diesem Zeitpunkt, 1880, befand sich Frankreich bereits seit einem Jahr in einer Agrarkrise, die sich bis 1885 noch steigerte und deren letzte Nachwehen bis 1895 zu spüren waren.
Diese Krise
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