Die Erde
gesellschaftlichen Zusammenhänge in die Menschen und Tiere, die ganze Natur gleichermaßen umfassende biologische Gesetzmäßigkeit verlor die Gestaltung der sozialen Problematik folgerichtig an Bedeutung, wie umgekehrt rückwirkend die soziale Entschärfung des Zentralkonflikts gerechtfertigt und »logisch« notwendig wurde. Die »Sozialgeschichte« des Bauern wurde solchermaßen zum Hintergrund umgewertet, und vor ihm konnte sich nun in voller Breite und unter Einbeziehung großzügig ausgeführter Sittengemälde das zwischenmenschliche Drama um den alten Fouan, um Geierkopf, um Lise und Françoise und um Jean abspielen.
Die eigentliche Handlung kommt nur langsam in Gang. In den beiden ersten Teilen stehen die breit ausgeführten Genrebilder aus dem Dorfleben, spezieller aus dem Leben der Bauern, unbestritten im Vordergrund: und die damit verbundenen lyrischen Naturbilder. Die Handlungsexposition, die Einführung der Personen und die Schürzung des Knotens in beiden Handlungszentren, ergibt sich mehr als Nebenprodukt.
Im dritten Teil liegt das ganze Schwergewicht der Darstellung auf den letzten drei Kapiteln; in denen mit der Getreideernte, dem Doppelvorgang der Geburt von Lises zweitem Kind und dem Kalben der Kuh das Hohelied der Fruchtbarkeit bei Mensch und Tier und Erde gesungen und die naturphilosophische Symbolhandlung zu ihrem Höhepunkt geführt wird.
Wiederum ist auch dieser Abschnitt mit Genrebildern durchsetzt, genauso wie der vierte und selbst der fünfte Teil (Weinernte, Begräbnis und Auslosung). Im übrigen aber ballt sich die Handlung hier dramatisch zum katastrophenartigen Schluß, wenn auch mit dem Leidensweg des alten Fouan nochmals ein retardierendes Moment eingeführt wird. Der Schluß selbst bringt nicht weniger als drei gewaltsame Todesfälle und ein Großfeuer, wobei die Hauptkatastrophe – die Ermordung Françoises – im Sterbekapitel durch die Parallelhandlung mit der Auslosung der Dorfjungen zum Heer und den eintreffenden Nachrichten über den bevorstehenden Krieg mit Deutschland symbolisch mit der historischen Schlußkatastrophe, dem Zusammenbruch des Kaiserreichs, und durch das gleichfalls parallel verlaufende Gespräch zwischen Hourdequin und Jean über den bevorstehenden Ruin der ganzen Landwirtschaft, den Niedergang der Erde und die Ablösung der alten verfaulten Rasse durch ein neues Emporkeimen, ebenfalls symbolisch mit dem naturphilosophischen Zentralmotiv verbunden ist.
Diese Katastrophenhäufung in der privaten Sphäre zeigt einmal mehr Zolas Bemühen, die tatsächlich drohende Krisenkatastrophe im sozialen Bereich mit seinen künstlerischen Möglichkeiten anzudeuten.
Denn trotz aller nachträglichen Beteuerungen über die profunde Beschäftigung mit seinem Gegenstand hat Zola den ganzen Landwirtschaftskomplex zweifelsohne nicht sehr gut gekannt. Das Maximum, das er innerhalb der notwendig eintretenden Beschränkung zu geben vermochte, war, die innere Wahrheit der Gestalten und der Handlung bis zur äußersten Logik zu entwickeln. Und beides hat Zola getan. Das zeigt sich am besten in der Art, wie er den Ausgang der Auseinandersetzung zwischen Jean und Geierkopf entgegen den ursprünglichen Plänen verändert hat. Ursprünglich sollte Jean den ihm zustehenden Teil von Françoises Hinterlassenschaft verkaufen und Geierkopf mit leeren Händen ausgehen. Sein Traum, das so heiß begehrte Landstück Les Cornailles ungeteilt zu besitzen, wäre damit zerstört gewesen, alle Verbrechen und Morde umsonst. Im Grunde also eine »Katastrophe« mehr.
Diese Lösung aber hätte sowohl der inneren Logik der Gestalten, vor allem Jeans, als auch der inneren Logik der Handlung und ebenfalls der literarischen Wahrheit ganz allgemein widersprochen. Denn in der von Zola geschilderten Welt trugen nicht die »Guten« den Sieg im Leben davon. Skrupellose Ichmenschen, ja Verbrecher wie Geierkopf, die setzten sich durch. Und Zola führte die Handlung in diesem Sinne logisch zu Ende.
Zola sah übrigens im Bauern neben dem Arbeiter den einzig möglichen Prototyp für die Schaffung großer literarischer Gestalten in der modernen Literatur .
Die Gestalt des Bauern hatte seit dem Mittelalter Heimatrecht in der französischen Literatur, wenn auch in den verschiedenen Zeiten in ganz unterschiedlichem Sinne. Die Wahl des Helden und der vorbildlichen literarischen Gestalt hängt in jeder Epoche mit der gesamten gesellschaftlichen Situation zusammen und wird stets durch das Ideal der herrschenden Schicht
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